Der Realitätsschock: Als West-Berlin die Notbremse zog

Nur drei Wochen nach dem Fall der Mauer holte der administrative Alltag die euphorisierte Halbstadt ein. Am 29. November 1989 signalisierte der West-Berliner Senat: „Nichts geht mehr.“ Ein Rückblick auf den Moment, als die Turnhallen voll und die politischen Gräben tief waren.

Von unserem Korrespondenten
Berlin. Es waren Tage des Taumels, der Freudentränen und der Sektkorken. Doch Ende November 1989, kaum 20 Tage nachdem Günter Schabowski jenen berühmten Zettel verlas, wich die Poesie der Revolution der Prosa der Verwaltung. West-Berlin, die Insel der Freiheit inmitten der DDR, stand vor dem Kollaps.

Eine Meldung der Nachrichtenagentur ADN, abgedruckt in der Berliner Zeitung, markierte an jenem Mittwoch, dem 29. November 1989, den Wendepunkt: Der West-Berliner Senat beschloss einen faktischen Aufnahmestopp für DDR-Übersiedler.

„Wir können nicht mehr“
Die Worte von Sozialsenatorin Ingrid Stahmer (SPD) waren an Deutlichkeit nicht zu überbieten: „Wir können nicht mehr.“ Es war ein Hilferuf einer Stadtverwaltung, die von der Geschichte überrollt wurde. Die Zahlen, die Stahmer präsentierte, illustrieren den enormen Druck, der auf der Infrastruktur lastete. Allein im November waren 15.648 Übersiedler in die Stadt geströmt. Die Gesamtzahl des Jahres 1989 belief sich zu diesem Zeitpunkt bereits auf über 53.000 Menschen.

Die Folgen waren im Stadtbild nicht mehr zu übersehen. Die regulären Wohnheime waren mit 20.000 Plätzen restlos belegt. Wer jetzt noch kam, landete im Provisorium: 8.000 Menschen hausten in Containern, Messehallen oder umfunktionierten Fabrikhallen. Besonders prekär: 2.100 Neuankömmlinge mussten in 34 beschlagnahmten Turnhallen schlafen – Feldbetten statt Schulsport, Massenunterkunft statt Privatsphäre.

Die neue Härte des Senats
Der Beschluss des Senats war drastisch: Ab sofort sollten nur noch jene Übersiedler in West-Berlin aufgenommen werden, die enge familiäre Bindungen in der Stadt nachweisen konnten. Alle anderen – und das war die Mehrheit – sollten in die Bundesrepublik weitergeleitet werden. West-Berlin erklärte sich für voll.

Der politische Grabenkampf
Doch in der aufgeheizten Atmosphäre der Wendezeit blieb dieser administrative Notakt nicht ohne politisches Nachspiel. Die Opposition im Abgeordnetenhaus witterte Verrat an den nationalen Pflichten. Eberhard Diepgen, Fraktionschef der CDU und späterer Regierender Bürgermeister, attackierte den SPD-Senat scharf.

Diepgen bediente dabei ein Narrativ, das auf die emotionale Ungleichbehandlung abzielte: Es könne nicht sein, dass selbst abgelehnte Asylbewerber bleiben dürften, während man „eigene Landsleute“ abweise. Der Streit verdeutlichte das Dilemma jener Tage: Wie viel Pragmatismus verträgt die nationale Euphorie? Für Diepgen war die Antwort klar: Die Zurückweisung von DDR-Bürgern war ein Tabubruch.

Ein Dokument der Zeitgeschichte
Rückblickend erscheint die Meldung vom 29. November wie ein Brennglas der Nachwende-Probleme. Sie zeigt, wie schnell die Ressourcen einer geteilten Stadt erschöpft waren und wie unvorbereitet der Westen auf die massenhafte Abwanderung aus dem Osten tatsächlich war. Während auf dem Kurfürstendamm noch gefeiert wurde, kämpften die Behörden in den Amtsstuben bereits mit dem organisatorischen Kater nach der Party.