Es gibt Melodien, die kleben. Sie haften im Gehörgang wie Kaugummi unter der Schuhsohle, süß und zäh zugleich. Wer im Osten dieses Landes aufgewachsen ist, kennt diesen Takt. Ein schnelles, fast militärisches Folk-Gitarren-Schrammeln, dazu ein Chor, der nicht bittet, sondern fordert: „Sag mir, wo du stehst / und welchen Weg du gehst.“
Der Gassenhauer des Oktoberklubs aus dem Jahr 1967 war der Soundtrack einer ganzen Generation – ob sie wollte oder nicht. In den Ferienlagern, auf den Appellplätzen, in den FDJ-Versammlungen. Damals war das Lied ein Instrument. Es war der vertonte Bekenntniszwang eines Staates, der offiziell keine Grauzonen duldete.
Heute, fast sechzig Jahre später und in einem ganz anderen politischen System, ertappe ich mich dabei, wie mir der Text wieder in den Sinn kommt. Nicht aus Nostalgie. Sondern weil er, auf eine fast unheimliche Weise, den Nerv unserer heutigen, gesamtdeutschen Gegenwart trifft. Wir leben im Westen wie im Osten längst nicht mehr in der Diktatur des Proletariats. Aber leben wir vielleicht in einer Diktatur der Eindeutigkeit?
Schauen wir uns den Text von Hartmut König noch einmal an, jenseits der Lagerfeuer-Romantik. „Du gibst dich cool und willst damit sagen / Das alles geht mich gar nichts an.“ In den 70er Jahren war das eine Drohung an die „Nischengesellschaft“. Wer sich ins Private zurückzog, wer einfach nur seine Ruhe wollte, galt als verdächtig. Neutralität war Verrat an der Sache.
Wenn ich heute durch meine Timeline auf Facebook scrolle oder die aufgeheizten Debatten in Talkshows verfolge, spüre ich denselben Geist atmen. Das „Alles geht mich nichts an“ ist auch heute kein akzeptierter Zustand mehr. Zu jedem Thema – sei es der Krieg in der Ukraine, die Klimakrise, Genderfragen oder die Pandemie-Aufarbeitung – wird eine Positionierung erwartet. Und zwar sofort.
Das Lied fuhr fort mit der Zeile: „Wir haben ein Recht darauf, dich zu fragen.“ Haben wir das? Das Kollektiv – heute ist es nicht mehr die Partei, sondern die „Bubble“, die moralische Mehrheit oder die eigene Peer-Group – fordert Rechenschaft. Die Logik des Oktoberklubs hat den Systemwechsel überlebt: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.
Das Gefährliche daran ist damals wie heute der Verlust der Zwischentöne. Das Lied „Sag mir, wo du stehst“ kennt kein „Ich bin mir noch unsicher“ und kein „Sowohl als auch“. Es kennt nur Hier oder Dort. Freund oder Feind. Guter Sozialist oder Klassenfeind. Heute übersetzen wir das in: Woke oder Rechts. Gutmensch oder Alter Weißer Mann.
In dieser binären Logik stirbt das Gespräch. Wenn ich mein Gegenüber nur noch daran messe, wo er steht – also welches Label er trägt, welcher Partei er zuneigt, welchen Hashtag er benutzt –, dann höre ich schon lange nicht mehr zu, was er eigentlich sagt. Die Standortbestimmung ersetzt das Argument.
Natürlich, und das gehört zur Ehrlichkeit dieser Kolumne dazu: Haltung ist wichtig. In Zeiten, in denen Demokratie verächtlich gemacht wird und Fakten verdreht werden, darf man sich nicht „cool geben“ und wegducken. Das Lied hat in seiner Aufforderung, Verantwortung zu übernehmen, einen wahren Kern. Ohne Menschen, die Flagge zeigen, funktioniert keine Gesellschaft.
Aber vielleicht sollten wir den Text für das Jahr 2024 umschreiben. Statt der aggressiven Frage „Sag mir, wo du stehst“, die den anderen an die Wand drückt, bräuchten wir eine neugierigere Variante: „Erzähl mir, wie du dort hingekommen bist.“
Wir haben verlernt, die Ambivalenz auszuhalten. Wir haben verlernt, dass jemand in einer Frage „richtig“ liegen kann, auch wenn er in unserem Lager eigentlich „falsch“ steht. Der Oktoberklub wollte marschierende Kolonnen im Gleichschritt. Eine Demokratie aber braucht das Stolpern, das Zögern und das Aushalten von Widersprüchen.
Der Ohrwurm mag bleiben. Aber wir sollten aufhören, das Leben als einen ständigen Appellplatz zu betrachten, auf dem wir jeden Tag unsere Gesinnung ins Protokoll diktieren müssen. Manchmal ist „Ich weiß es noch nicht genau“ nämlich der ehrlichste und mutigste Standpunkt von allen.