Stein gewordene Utopie: Warum Henselmanns Kulissen blieben

Wer heute die Karl-Marx-Allee entlangschaut, sieht mehr als nur eine Straße. Man blickt in den versteinerten Willen eines Staates, der „Größe“ verordnen wollte. Hermann Henselmann, der wichtigste Architekt der frühen DDR, plante hier keine bloßen Wohnmaschinen. Er entwarf eine „Freiluftbühne der Nation“. Seine Architektur war ein ideologisches Gegenmodell zum Westen: Was drüben der Kommerz war, sollte hier Ordnung, Disziplin und kollektiver Stolz sein. Henselmanns Überzeugung war simpel: Eine sozialistische Hauptstadt muss sichtbar machen, was die Republik sein will.

Doch die Ironie der Geschichte begann schon lange vor dem Mauerfall. Henselmanns Vision vom „sichtbaren Sozialismus“ – mit seinen Kolonnaden, Keramikfliesen und repräsentativen Achsen – wurde vom eigenen System eingeholt. Die Ökonomie kannte keine Romantik. Während der Architekt noch von der „Erziehungsfunktion des Stadtraums“ sprach, rechneten die Funktionäre längst in Plattenbauten. Henselmanns Entwürfe galten bald als „ästhetischer Ballast“, als zu teuer, als „nicht produktive Ressourcenbindung“. Die Partei wollte Wohnungen, keine Tempel.

Und heute? Nach 1989 schien das Schicksal dieser Bauten besiegelt. Sie galten als steinerne Zeugen einer gescheiterten Diktatur, als überdimensionierte Fremdkörper. Doch dann geschah das Unerwartete: Die Substanz siegte über das Symbol. Bewohner schätzten die soliden Grundrisse, Denkmalpfleger die handwerkliche Qualität, die im späteren Einheitsgrau der DDR verloren ging.

Es bleibt ein faszinierendes Paradoxon: Henselmanns Werk hat die politischen Systeme überdauert, die es hervorbrachten. Man kann es mit einem stabilen Schiffsrumpf vergleichen, der einst für eine ganz bestimmte Flagge gebaut wurde. Obwohl die Flagge längst gewechselt wurde und das Schiff politisch zeitweise als manövrierunfähig galt, blieb der Rumpf dicht. Die Architektur erwies sich als stärker als die Ideologie. Der Staat ist verschwunden, der Architekt fast vergessen – aber seine steinerne Kulisse steht, nunmehr entpolitisiert durch den Alltag, fester denn je.