Freie Wahlen sind das Thermometer der Demokratie. Doch im späten Frühjahr 1989 zeigte dieses Thermometer in der DDR nur einen künstlich erzeugten Fieberwert. Das Regime sorgte selbst dafür, dass die Anzeige stabil blieb – bei nahezu hundert Prozent Zustimmung. Der 7. Mai 1989 aber wurde zum Tag, an dem das Fieberthermometer plötzlich anfing, zu flackern.
Denn zum ersten Mal beschlossen Bürgerinnen und Bürger, das zu tun, was ihnen das Gesetz eigentlich schon immer erlaubte: die Auszählung der Stimmen selbst zu beobachten. Es war ein kleiner, aber mutiger Schritt – und er veränderte das Land.
Wer 1989 an der Stimmauszählung teilnahm, riskierte mehr als Missgunst. Es war ein Schritt aus der Deckung, mitten hinein in den Blick des Staates. Ein Zeitzeuge erzählt, wie er am Wahltag seine Nachbarn überreden wollte, mit ins Wahllokal zu kommen. Doch niemand wagte es. „Die hatten Angst, dass es für sie Nachteile geben könnte“, sagt er. Also ging er allein – und blieb bis zur letzten Stimme. Die Angst der Vielen machte den Mut der Wenigen umso sichtbarer.
Die Bürgerrechtler, die diese Aktion planten, waren keine Chaoten, sondern Juristen in eigener Sache. Sie studierten das Wahlgesetz, markierten Paragraphen, kannten jede Definition – selbst die einer gültigen „Nein-Stimme“. Und sie taten das Undenkbare: Sie erstatteten Anzeige wegen Wahlfälschung. § 211 des DDR-Strafgesetzbuches war ihre Waffe – eine ironische Pointe der Geschichte, dass der Staat am Ende durch seine eigenen Gesetze entlarvt wurde.
Der Beweis gelang mit Bleistift und Taschenrechner. In Berlin-Weißensee standen Beobachter in 65 von 67 Wahllokalen. Sie notierten die echten Zahlen, verglichen sie mit den offiziellen. Das Ergebnis: Statt 98 % Zustimmung nur etwa 90 %. Eine Abweichung, klein genug, um glaubwürdig, groß genug, um die Lüge sichtbar zu machen.
Als ein Bürgerrechtler Anzeige erstattete, sagte ihm die Staatsanwältin kühl: „Die Wahl ist dreimal geprüft worden – also kann sie nicht gefälscht sein.“ Absurder kann man die Logik einer Diktatur kaum auf den Punkt bringen. Doch die Wahrheit war längst nicht mehr aufzuhalten. Der 7. Mai wurde zum symbolischen Datum. Monat für Monat trafen sich Menschen zu Protesten – immer am siebten. Es war der Anfang vom Ende.
Wer damals dabei war, weiß, was Freiheit bedeutet. Eine Stimme, die gezählt wird, ist mehr als ein Kreuz auf Papier – sie ist ein Stück Würde. Die Wahlfälschung von 1989 war der Moment, in dem Menschen in der DDR begriffen: Ihre Stimme zählt, wenn sie dafür einstehen.