Zwischen Warnungen vor der schnellen Einheit und Visionen vom „Dritten Weg“

Berlin, Frühjahr 1990 – In einer Zeit des Umbruchs, kurz vor der ersten freien Volkskammerwahl der DDR, äußerte sich Gregor Gysi, der Vorsitzende der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS), der ehemaligen SED, ausführlich zu den drängendsten Fragen der deutschen Vereinigung und der Zukunft des Sozialismus. Als Kind von Emigranten und „Altkommunisten“ sowie Rechtsanwalt, der Regimekritiker und Oppositionsgruppen wie das Neue Forum verteidigt hatte, sah sich Gysi vor der Aufgabe, eine in Auflösung begriffene Partei neu zu positionieren und dabei auch persönlich viel Feindseligkeit entgegenzutreten.

Warnung vor übereilter Vereinigung und Souveränitätsverlust
Gysi warnte eindringlich vor einer übereilten Vereinigung und insbesondere vor einer zu schnellen Währungsunion. Er betonte, dass die DDR im völkerrechtlichen Sinne zwar noch auf eigenen Beinen stehe, wirtschaftlich und währungspolitisch jedoch wahrscheinlich nicht mehr vollständig.

Für ihn bedeutete der Verlust des eigenen Geldes den Verlust eines wesentlichen Teils der Souveränität. Statt einer sofortigen Währungsunion plädierte er für einen Währungsverbund, der die Souveränität der DDR nicht aufheben, aber wirtschaftlichen Druck mindern und die Effizienz steigern würde. Bürger könnten ihre Einkünfte in frei konvertierbare Währung, auch in D-Mark, tauschen, ohne dass es zu Konkursen oder einer „Amas“-Situation käme. Er schätzte die Erfolgsaussichten seiner Warnungen als unsicher ein und verwies auf die Entscheidung der Wähler am 18. März sowie der Experten.

Gysi sah die Menschen in der DDR nicht einheitlich repräsentiert: Es gebe Demonstranten für eine eigenständige DDR ebenso wie für die sofortige Vereinigung, aber die Mehrheit von 15 Millionen äußere sich kaum. Er vermutete, dass er als „Hindernis bei der sofortigen Annexion der DDR an die Bundesrepublik“ empfunden werde, was ihm Gegnerschaft oder Hass einbringe, womit er aber leben müsse, da er aus politischer Verantwortung handle. Er bezeichnete sich selbst als in die Politik „hineingeschossen“ und nicht „hineingeboren“, ohne Zeit, sich an diese Rolle zu gewöhnen, erhielt aber auch viel Sympathie.

Entmilitarisierung als Schlüssel zur Sicherheit
Ein zentraler Punkt in Gysis Vision für ein vereinigtes Deutschland war die vollständige Entmilitarisierung. Er stellte klar, dass dies nicht bedeuten müsse, sofort aus den jeweiligen Paktsystemen (NATO und Warschauer Pakt) auszutreten. Eine Entmilitarisierung könne auch innerhalb der Bündnisse erfolgen, was bedeuten würde, dass sowohl amerikanische als auch sowjetische Truppen abgezogen werden müssten und die Bundesrepublik wie die ehemalige DDR territorial entmilitarisiert werden müsse. Er hielt es für denkbar, dass zunächst beide Staaten in einer Konföderation Mitglieder ihrer Bündnisse bleiben könnten, aber bei einer späteren Vereinigung die Entmilitarisierung so weit fortgeschritten sein müsste, dass eine Zugehörigkeit zu Militärblöcken sinnlos würde. Er hoffte sogar auf eine Auflösung der Blöcke bis dahin, da der Ost-West-Widerspruch stark abgebaut sei.

Gysi korrigierte die Annahme, der sowjetische Staatspräsident Gorbatschow habe den „Genscher-Plan“ (NATO-Zugehörigkeit der alten Bundesrepublik, Neutralität der ehemaligen DDR) als unseriös bezeichnet. Er selbst habe diesen Plan bei seinem Moskau-Besuch Ende Januar als unseriös und unrealistisch kritisiert, da er zu Problemen der Wehrpflicht und Truppenstationierung in einem geeinten Deutschland führen würde. Er bezeichnete es als stutzig machend, wenn ein Politiker, der die deutsche Einheit wolle, zu keinerlei politischen oder militärischen Kompromissen bereit sei.

Sozialismus als „Dritter Weg“
Für Gysi war der demokratische Sozialismus der PDS ein „reformierter, ökologischer, sozialer Sozialismus“. Der entscheidende Unterschied zum Sozialdemokratismus liege in Eigentumsfragen und Strukturen, genauer gesagt in der Frage der Dominanz gesellschaftlichen Eigentums, also der Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Er betonte jedoch, dass dies nicht alleiniges Eigentum bedeute, sondern auch einen starken privaten Sektor, insbesondere in der Klein- und Mittelindustrie, sowie gemischte Eigentumsformen und Kapitalbeteiligungen in volkseigenen Betrieben.

Ziel sei eine wirkliche Vergesellschaftung im Sinne einer breiten Arbeiterdemokratie mit Mitbestimmung über Produktion, Verteilung und Gewinnbeteiligung, um ein dichtes soziales Netz zu gewährleisten und einen Interessenausgleich sowie Wettbewerb zwischen verschiedenen Eigentumsformen zu schaffen, der den globalen Menschheitsinteressen dient. Er lehnte Zwang zum Glück ab.

In der Frage nach der Priorität von sozialer Gerechtigkeit versus individuellen Freiheitsrechten differenzierte Gysi: Für die Mehrheit der Menschen weltweit sei die soziale Absicherung das Entscheidende, die Chance zum Überleben vor Hunger und Not. Für ihn persönlich, der nie sozial unsicher gelebt habe, spiele die individuelle Freiheit eine größere Rolle, dies sei aber egoistisch betrachtet. Er sah keine Notwendigkeit, Freiheitsrechte zu beschneiden, um den Hunger und die Armut in der Welt zu bekämpfen, solange Freiheit nicht als das Fehlen jeglicher Eingriffe in Vermögensverhältnisse verstanden werde.

Der Umgang mit der Geschichte und persönliche Herausforderungen
Gysi wies die populäre Darstellung der DDR-Geschichte als 40 Jahre der Lüge und des Betrugs entschieden zurück. Er sah darin ein „Unfähigkeitszeugnis“ und ein „Unfreiheitszeugnis“, das das Selbstbewusstsein der Menschen zerstöre. Er forderte eine differenzierte Betrachtung der 40-jährigen Geschichte, die weder komplett verurteilt noch bejubelt werden könne.

Die Rolle als Parteivorsitzender der PDS empfand Gysi als enorme Herausforderung. Er gab zu, die Aufgabe „restlos unterschätzt“ zu haben und in einen Zustand der „fristlosen Überforderung“ geraten zu sein, da er weder den Apparat kannte noch ihm völlig vertrauen konnte. Er überschätzte seine Fähigkeit, den Apparat zu leiten und seine Strukturen schnell zu verändern. Seine Motivation zur Übernahme des Amtes war nicht persönlicher Ehrgeiz, sondern das Gefühl der Solidarität mit einer schwach gewordenen Bewegung, nachdem er zuvor jahrelang Schwache gegen ein starkes System verteidigt hatte. Er hätte das Amt nur abgegeben, wenn er das Gefühl gehabt hätte, nicht mehr von den Erneuerern oder jungen Mitgliedern der Partei getragen zu werden, oder wenn die Partei eine Richtung eingeschlagen hätte, die nicht mehr seine eigene gewesen wäre.

Auf die Frage nach unterschwelligen antisemitischen Stimmungen gegen ihn aufgrund seiner teilweise jüdischen Herkunft und seiner Position als PDS-Vorsitzender („rote Ratte und die auch noch jüdisch“) in den Medien der Bundesrepublik antwortete Gysi, dass es derartige Andeutungen gab, aber persönlich aus der DDR bisher nicht.

Blick in die Zukunft: Der „Dritte Weg“ im Jahr 2000
Gysi blickte optimistisch in die Zukunft und prognostizierte, dass sich die Welt im Jahr 2000 bereits auf dem „Dritten Weg“ befinden werde. Er sah diesen Weg, den demokratischen Sozialismus, als die einzige Lösung für die globalen Menschheitsfragen, da es weder mit dem Kapitalismus noch mit dem stalinistischen Sozialismus so weitergehen könne. Für ihn war dies „die Chance für die Menschheit“.