Wie die DDR-Universität Halle kritische Stimmen zum Schweigen brachte

Es war der 22. April 1958, als sich der Akademische Senat der Martin-Luther-Universität Halle zu einer außerordentlichen Sitzung versammelte. Doch was sich hier abspielte, war weniger eine akademische Debatte als vielmehr ein inszenierter Prozess, der das Schicksal des sogenannten „Spirituskreises“ besiegeln und ein klares Zeichen gegen jede Form von Widerstand in der jungen DDR setzen sollte.

Die Universität als Instrument der Macht
Nach der Gründung der BRD und der DDR im Jahr 1949 wurde die Sowjetunion unter Stalin zum Vorbild für Walter Ulbrichts Umgestaltung der DDR. Im Juli 1952 wurde offiziell der Aufbau des Sozialismus verkündet. In diesem Zuge sollten die Universitäten als „Instrumente der politischen Herrschaft und planwirtschaftlichen Lenkung umgestaltet werden“. Leo Stern, seit 1952 Rektor der Halleschen Universität, stand für diese Zeit, die „nicht zu den besten in der Universitätsgeschichte zählt“, da er die Universität „sehr nah an der Ideologie der SED ausgerichtet“ hatte. Er verfolgte das Ziel, eine neue Elite aus Arbeiter- und Bauernkindern zu etablieren.

Der ominöse „Spirituskreis“: Kaffeekränzchen oder zweite Leitung?
Seit Jahren beschäftigte der „ominöse Spirituskreis“ die Öffentlichkeit, die Staatsorgane und die Gesellschaft. Seine Teilnehmer beschrieben ihn als „harmloses Kaffeekränzchen“ oder „Herrenkränzchen“, das sich privat in Wohnungen traf, um in kleinen Runden von zwölf Personen, zwölf Monate lang, zwölf Vorträge zu hören. Man habe sich lediglich zum „rein persönlichen Kontakt“ getroffen, wo „alles zwanglos vor sich ging“.
Für Rektor Stern jedoch war der Kreis „offenkundig eine Art zweite gespenstische Leitung, die alles dirigiert und regelt und sogar Rektoren einsetzt und absetzt“. Das „illegale Wirken“ sollte ins Licht der Öffentlichkeit gebracht werden, um die Universität von einer „negativen Hypothek“ zu befreien. Professoren wie Abeck, Gallwitz und Hoffmann wurden befragt, um „Einheit“ zu gebieten.

Widerstand und Repression: Das Schicksal der Studenten
Bereits in den frühen 1950er Jahren formierte sich studentischer Widerstand. Eine Gruppe in Halle verteilte satirische Zeitschriften wie „Die Tarantel“ und im Dünndruck nachgedruckte West-Berliner Tageszeitungen. Besonders brisant waren die Osterpostkarten von 1952, die als „Todesdrohung“ gewertet wurden und Texte enthielten wie: „Die Beseitigung von Menschen Ihres Schlages erfolgt schnell und schmerzlos. Widerstandsgruppe Sachsen-Anhalt, Sektion Halle“.

Diese Aktivitäten führten zu Verhaftungen und brutalen Verhören im Gefängnis „Roter Ochse“ in Halle. Ehemalige Häftlinge berichteten von Schauprozessen, Isolation in sechs Quadratmeter großen Zellen und Folter in „Wasserzellen, Stehzellen, Tropfzellen oder Kältezellen“. Die Stasi setzte auch auf „Schläge“, „Nachtverhöre“, „Erpressung, Nötigung, Drohung, Entwürdigung, Entmenschlichung“ und die systematische „Zersetzung feindlich negativer Elemente“, was einer „Persönlichkeitszerstörung“ gleichkam. Viele der etwa 160 Verhafteten machten später in der Bundesrepublik Karriere, doch einige waren so „zerbrochen“, dass sie das Erlebte nicht verwinden konnten, wie der tragische Suizid von Hans Jochen Fischer zeigte.

Der 17. Juni 1953: Ein Wendepunkt mit blutigen Folgen
Die Krise des Sozialismus kulminierte in den Volksaufständen vom 17. Juni 1953. Auch in Halle marschierten Arbeiter und Angestellte in die Innenstadt. Eine riesige Menge versuchte, den Roten Ochsen zu stürmen, um politische Gefangene zu befreien. Der Aufstand wurde durch sowjetische Besatzungstruppen niedergeschlagen, Panzer rollten auf dem Hallmarkt, und es wurde der Schießbefehl erteilt. Viele Tote waren zu beklagen, darunter der Universitätsmitarbeiter Gerhard Schmidt, der von einem Querschläger tödlich getroffen wurde. Die staatliche Presse inszenierte seinen Tod als Mord durch „aufständische Massen“, um den Aufstand als „faschistischen Putsch-Versuch“ darzustellen. Professoren und Studenten, die an den Demonstrationen teilnahmen, wurden identifiziert und verfolgt. Dieser Tag und der spätere Mauerbau 1961 prägten das Bewusstsein der Bevölkerung: „man wusste, wie weit man gehen kann“.

Leo Stern und die Verfolgung der Kirche
Rektor Stern spielte eine zentrale Rolle in der Verfolgung kritischer Stimmen. Er stand unter dem Druck der radikaleren Parteileitung, nicht „zu einsichtig“ zu sein. Um seine Parteitreue zu beweisen, forderte er nicht nur die Verhaftung des Studentenpfarrers Johannes Hamel, sondern auch das Verbot theologischer Fakultäten. In einem Brief an Walter Ulbricht schrieb er sinngemäß: „wenn dem Pfarrer Hamel nicht bald durch Verhaftung oder auf andere Art das Handwerk gelegt werden wird, kann der Schaden an der Universität unübersehbar werden“. Wenige Monate später war Hamel in Haft. Die evangelischen Studentengemeinden, in denen sich Andersdenkende sammelten, wurden in den 50er Jahren zu „potenziellen Feinden“.

Die Stasi greift ein: Ingrid Schulze als IM
Da Stern die „bürgerlichen Professoren“ nicht loswerden konnte, schaltete die Hochschulleitung das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) ein. Die Stasi sollte Material beschaffen, das zu einem Verbot des Spirituskreises und zur Entlassung seiner Mitglieder führte.
Ein Schlüsselmoment war die Denunziation von Professor Kurt Arland durch seine ehemalige Assistentin Ingrid Schulze. In einer riesigen Versammlung von bis zu 1000 „Intelligenzlern“ und Arbeitern im Gewerkschaftshaus, in Anwesenheit Walter Ulbrichts, schwärzte die eigentlich schüchterne Frau Schulze Arland an. Sie beklagte, dass Arland ihren Arbeitsvertrag aus „politischen Gründen“ beendet habe und kritisierte seine schlecht vorbereiteten Vorlesungen und die fehlende Stärkung des sozialistischen Bewusstseins unter Theologiestudenten. Für ihre Dienste als inoffizielle Mitarbeiterin (IM) der Stasi wurde ihr eine Karriere an der Universität bis zur Rente zugesichert.

Das Ende des Spirituskreises und die Konsequenzen
Die Senatssitzung vom 22. April 1958, vorbereitet mit abgehörten Stimmen und von IMs formulierten Reden, gipfelte in einem drakonischen Beschluss. Rektor Stern brachte den Beschluss zur Abstimmung, dass der „sogenannte Spirituskreis in seinem Inhalt nach gegen die sozialistische Entwicklung der Universität gerichtet“ sei und „mit sofortiger Wirkung aufgelöst“ werde. Die Abstimmung erfolgte mit 13 Stimmen dafür, niemand dagegen und sechs Enthaltungen. Eine Enthaltung galt bereits als „sehr, sehr mutig“.

Die Zerschlagung des Spirituskreises hatte weitreichende Folgen: Sie diente der „Disziplinierung der gesamten Universität“ und war eine „große Drohung“. Viele Angehörige der Intelligenz flohen in den Westen. Obwohl die SED versuchte, das „christliche Bürgertum“ zu zerstören, gelang es ihr nicht vollständig. Doch die Mehrheitsgesellschaft zog sich zurück und schwieg. Die Geschichte der DDR zeige, dass auch eine Diktatur „mit bedrückender Mehrheit begleitet und auch gut geheißen hat“.

Die Zerschlagung des Spirituskreises bleibt ein düsteres Kapitel der Universitätsgeschichte und ein Beispiel dafür, wie ein totalitäres Regime intellektuellen Widerstand zu unterdrücken versuchte.