Noch bevor die Zeugnisse verteilt waren, begann für viele Kinder in der DDR bereits die Vorfreude: Das Ferienlager war das große Sommerziel und der Höhepunkt des Jahres. Es war die Zeit der Strichlisten an Spiegeln oder auf Tischen, auf denen täglich ein weiteres Zeichen die Tage bis zur Abholung verkürzte. Mutti tippte akribisch eine Packliste auf ihrer Schreibmaschine – Zahnbürste, Badehose, Taschenlampe und, ganz wichtig, Briefpapier für die Eltern, das jedoch selten benutzt wurde. Wichtige Dinge wie Tischtenniskellen, Dreisternebälle und Kassetten fehlten hingegen oft auf dem Zettel. Das Packen war ein Ritual, begleitet von Muttis mahnenden Worten: „Benimm dich!“. In kleinen Koffern oder klobigen Reisetaschen verbarg sich neben der Kleidung auch ein kleines bisschen Nervosität.
Am Abreisetag versammelten sich die Kinder mit klopfendem Herzen an der Sammelstelle, oft vor dem Betrieb, der das Lager organisierte. Der Ikarus-Bus war laut, aber die Kinder waren lauter, erfüllt von Aufregung. Eltern winkten, manche Kinder weinten, und sobald der Bus losfuhr und das letzte Winken verhallte, begann sie: Die Zeit, die man nie vergisst.
Eine Welt zwischen Freiheit und Regeln
Das Lager, oft am Waldrand, in Strandnähe oder „mitten im Nirgendwo“, roch „irgendwie nach Freiheit und Regeln zugleich“ und wirkte riesig. Zwischen Baracken oder Zelten wehten Fahnen, und am Eingang warteten bereits die Gruppenleiter. Zeitweise gab es in der DDR über 6000 Lager, viele davon vom FDGB oder großen Betrieben organisiert. Ein Platz am Wasser, in Oberhof oder an der Ostsee, galt als besonderes Glück. Seit 1951 betrug der Preis für drei Wochen vier Mark pro Woche, ein Betrag, der bis 1989 unverändert blieb.
Nach der Begrüßung erfolgte die Gruppeneinteilung nach Alter, wobei Jungen und Mädchen getrennt untergebracht wurden. Die Gruppenleiter waren oft jung, manche fast selbst noch Kinder, nicht alle studierte Pädagogen, aber fast alle in der FDJ aktiv und meist herzlich. Der erste Gang führte zur Unterkunft: Betten wurden bezogen, Taschen im klapprigen Spind verstaut. Wer sich auskannte, sicherte sich das untere Bett, denn oben war es oft zu heiß.
Der durchgetaktete Tag: Von Frühsport bis Lagerfeuer
Der Tag im Ferienlager war kein Tag wie zu Hause, er war durchgetaktet. Schon vor Sonnenaufgang schallte ein Pfiff durchs Lager oder der Gruppenleiter stand in der Tür: „Aufstehen! Antreten! Frühsport!“. Dieser war Pflicht, egal ob Hampelmänner auf der Wiese oder Rennen im Kreis, in kurzen Hosen und mit verschlafenen Gesichtern. Gleich danach folgte der erste Appell: „Alle in Reih und Glied. Blick nach vorn. Seid bereit – immer bereit!“.
Der Vormittag war gefüllt mit Programm: Stationsläufe, Bastelrunden oder Naturerkundung. Auf dem Sportplatz wurde gelacht und gestritten, beim Seilziehen kämpften Gruppen gegeneinander. Ein Höhepunkt war die Lagermeisterschaft, die einmal pro Lager stattfand und für alle verpflichtend war. Bei Wurfspielen, Tischtennisturnieren und Liegestützwettbewerben wurden Siegerurkunden verliehen, die mit dem Stolz eines Olympiasiegers entgegengenommen wurden. Zwischendurch wurde gesungen, ob beim Wandern oder einfach so, Lieder wie „Kleine weiße Friedenstaube“ gehörten einfach dazu.
Neptunfest, erste Liebe und kleine Rebellionen
Ein ganz besonderes Highlight war das Neptunfest, das meist am zweiten Wochenende stattfand. Der Neptun kam aus dem See, begleitet von Wassergeistern, und wer noch nicht getauft war, musste dran glauben: Eingeseift, mit einem Eimer Wasser übergossen oder im See getaucht. Manchmal musste auch ein „gruseliger Trank“ aus Brausepulver, Gurkenwasser und Essig getrunken werden.
Die Nachmittage waren freier. Nach dem Mittagessen und der Mittagsruhe gab es oft „offene Zeit“ für Tischtennis, Skat oder Mau-Mau, oder kleine Ausflüge zu Bächen, Lichtungen oder alten Bunkern. Diese ungepackten Stunden waren besonders, da sie Raum für Gespräche, Spiele oder einfach nur das Alleinsein boten – „und doch nie wirklich einsam“. Hier, zwischen Neptunfest und Lagerolympiade, entstand „Gemeinschaft – nicht weil es jemand befohlen hatte, sondern weil es einfach passierte“.
Nachts entwickelte sich eine eigene Dynamik: Das Austesten von Grenzen gehörte dazu. Kleine Streiche wie Zahnpasta an Türklinken, Wasserbomben aus Waschlappen oder Schuhe auf dem Barackendach waren an der Tagesordnung. Wer es zu bunt trieb, bekam ein ernstes Wort vom Gruppenleiter oder musste in der Küche helfen. Die schlimmste Strafe, das Heimschicken, kam jedoch glücklicherweise selten vor. Die Älteren, oft mutiger und übermütiger, bestimmten, was „cool“ war: heimliches Herausschleichen, Lauschen an Mädchenbaracken, Rauchen oder Schnapstrinken. Doch man lernte auch Verantwortung und wie man sich gegenseitig aus der Patsche half.
Etwa in der siebten Klasse, mit 13 Jahren, wurden plötzlich andere Dinge interessant. Das bis dahin uninteressante „andere Geschlecht“ rückte in den Vordergrund. Ferienlager waren oft der Ort der allerersten großen Gefühle. Es wurde geflirtet, geschwärmt, heimlich Zettel getauscht. Ein Blick oder ein Kichern beim Abendprogramm konnten alles verändern. Wer sich traute, die Hand zu halten, schwebte. Filme wie „Sieben Sommersprossen“ fingen dieses Gefühl von verbotenen Blicken und verstohlenen Küssen ein.
Doch nicht alles war immer lustig. Streit in der Gruppe oder ältere Kinder, die den Neuen Angst einjagten, gehörten ebenso dazu wie das Überwinden des Heimwehs, das sich durch die Ritzen der Barackenfenster schlich. Doch irgendwann löste sich das Heimweh in Lachen auf, und das Lager wurde zum Alltag. Momente der Angst, wie der Gang allein zur Toilette in der Nacht, waren Mutproben, an denen die Kinder wuchsen. Am Ende zeigte sich der Zusammenhalt: Wenn jemand weinte, saß jemand neben ihm. Wenn jemand vermisst wurde, suchten alle. Und bei Ärger wurde oft mehr geredet als bestraft, denn das Ferienlager war „am Ende auch ein Schutzraum“.
Sozialismus zum Anfassen und internationale Freundschaft
Ferienlager in der DDR waren mehr als nur Ferienspaß; sie waren auch „Sozialismus zum Anfassen“. Politische Erziehung war stets präsent. Der Tag begann oft mit Appellen, Fahne hissen, Meldung geben, gemeinsamem Singen und kleinen Vorträgen über Themen wie Frieden oder Klassenkampf. Werte wie Gemeinschaft statt Egoismus, Ordnung und gegenseitige Hilfe wurden in Spielen und Aufgaben vermittelt und waren für die Kinder, die in dieser Welt lebten, normal.
Interessanterweise war der Blick über die Grenze in den frühen Jahren der DDR offener als oft angenommen. Zwischen 1950 und 1960 nahmen DDR-Ferienlager auch westdeutsche Kinder auf, organisiert durch die „zentrale Arbeitsgemeinschaft Frohe Ferien für alle Kinder“. Ziel war es, Kindern aus kinderreichen oder arbeitslosen Haushalten einen kostenlosen Aufenthalt zu ermöglichen und ihnen die „vermeintlichen Vorzüge des Sozialismus“ nahezubringen. Nach dem Mauerbau endeten diese Kontakte abrupt. In den 70er und 80er Jahren kehrte die Idee der internationalen Freundschaft im Zuge der Entspannungspolitik zurück. Es kamen Kinder aus sozialistischen Bruderstaaten wie Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei, aber auch wieder westdeutsche Kinder aus DKP-nahen Haushalten oder der Naturfreunde Jugendwest. Obwohl der offizielle Zweck dieser Austauschlager „Völkerfreundschaft, internationale Solidarität, Erziehung im Geist des Sozialismus“ war, entstand oft etwas viel Ehrlichereres: Freundschaft. Man tauschte Adressen, Schokolade und Geschichten, zeigte sich gegenseitig Dialekte und bekam heimlich Rockmusik-Kassetten aus dem Westen zugesteckt. Die Kinder verstanden sich oft besser als die Ideologien, die sie begleiteten.
Abschied und die Sehnsucht nach dem nächsten Sommer
Und dann kam er, plötzlich, der letzte Tag – für die meisten viel zu schnell. Kofferpacken, Muttis Liste abhaken, um zu kontrollieren, dass jedes Teil wieder dabei war – oder doch eher ein riesiger Klumpen benutzter Klamotten, auf den man sich setzte, um den Koffer zuzubekommen. Der Abschied schlich sich langsam ein, in den Blicken, in den Stimmen. Die letzten Lieder klangen leiser, es gab einen letzten Kuss von der großen Sommerliebe und das Versprechen, sich jeden Tag zu schreiben. Manche verdrückten eine Träne, andere schauten stumm aus dem Busfenster, und schon auf halber Strecke wurden schöne Momente zu Erinnerungen.
Zuhause wurde dann (fast) alles erzählt: von der Nachtwanderung, der Lagerdisco, der Betreuerin mit der Gitarre. Vom ersten Kuss erfuhr meist nur die beste Freundin. Doch eines wussten alle: „Ferienlager nächstes Jahr auf jeden Fall wieder!“. Eine Zeit, die vielleicht vergangen ist, aber niemals vergessen wird.