Tödliche Tabus im Sozialismus: Wenn Verbrechen das Bild einer heilen DDR zerstören

Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) propagierte sich als Staat ohne Mord und Totschlag, doch die Realität sah oft anders aus. Kriminalität, insbesondere schwere Verbrechen, passte nicht zum verordneten sozialistischen Menschenbild. Wenn dennoch Verbrechen geschahen, wurden Angehörige von Opfern zum Schweigen gebracht, Ermittlungen behindert und Fakten vertauscht – oft unter direkter Einflussnahme der Staatssicherheit (Stasi). Vier mysteriöse Kriminalfälle der DDR beleuchten, wie die Staatsmacht versuchte, das eigene Bild zu schützen und dabei Gerechtigkeit für Opfer und Hinterbliebene verhinderte oder verzögerte.

Der tödliche Schuss in Güstrow: Werner F. und die vertuschte Bluttat
Kurz vor Weihnachten 1984 eskaliert eine Betriebsfeier in Güstrow tödlich. Uwe Kowski, Wolf-Dieter Runge und Frank Nitsch, auf dem Heimweg von einer feuchtfröhlichen Weihnachtsfeier, bleiben am Zaun der Kreisdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit (Stasi) stehen. Dort feiert Unterleutnant Werner F. seinen 60. Geburtstag und hat trotz Wachdienst getrunken. Als die jungen Männer einen Wachhund reizen, stellt Werner F. sie und fordert ihre Ausweise. In der folgenden Auseinandersetzung zückt der Unterleutnant plötzlich seine Pistole und schießt ohne Vorwarnung aus Nahdistanz auf die drei Männer. Uwe Kowski stirbt noch am Tatort, Wolf-Dieter Runge erliegt zwei Tage später am Heiligabend seinen Schussverletzungen und hinterlässt ebenfalls Frau und Kinder. Frank Nitsch überlebt verletzt.

Die Angehörigen werden erst am nächsten Tag benachrichtigt und erhalten nur die halbe Wahrheit: Ihr Sohn habe militärisches Gelände betreten und sei dabei erschossen worden. Die Stasi streut die Version, Werner F. habe in Notwehr geschossen, da die jungen Männer auf der Dienststelle randaliert hätten. Intern jedoch untersucht die Stasi den Fall genau und kommt zu einem eindeutigen Ergebnis: Haftbefehl gegen Werner F. wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung. Obwohl bekannt war, dass Werner F. bereits früher unter Alkoholeinfluss eine Waffe benutzt hatte und die Stasi ihn selbst als „intellektuell unterdurchschnittlich begabt und einfach strukturiert“ einschätzte, setzte der Staat die Angehörigen massiv unter Druck, keine Zweifel an der offiziellen Version zu schüren.

Trotz Drohungen, wie der Aufforderung an Sigmund Kowski, seinen Sohn „endlich in Frieden ruhen zu lassen“, und dem Versuch, ihm einen falschen Fußabdruck zu zeigen, ermitteln die Eltern der Opfer auf eigene Faust. Die Stasi dokumentiert den Unmut in Güstrow akribisch und befürchtet Proteste. Viele meiden die Familien aus Angst vor der Stasi. Die Vertuschung passt zur damaligen staatlichen Praxis, das Bild einer „heilen Welt“ zu inszenieren, wie etwa beim Honecker-Besuch von Helmut Schmidt 1981, bei dem die Stadt abgeriegelt und systemkritische Bürger weggesperrt wurden.

Im Januar 1985 wird Werner F. aus der Untersuchungshaft entlassen, muss lediglich umsiedeln und den Dienst quittieren – eine Strafe erhält er zunächst nicht. Erst Jahre später, während der Friedlichen Revolution 1989, gelingt es dem Bürgerrechtler Heiko Lietz, der den Fall auch den Westmedien zugespielt hatte, ein Verfahren gegen Werner F. in Gang zu setzen. Im Dezember 1990 verurteilt ein Gericht den ehemaligen Stasi-Wachmann wegen zweifachen Totschlags und eines weiteren versuchten Totschlags zu zehn Jahren Freiheitsstrafe. Ein Gedenkstein in Güstrow erinnert heute an die Opfer staatlicher Gewalt in der DDR.

Der Fall Nancy Gruppe: Ein ungeklärtes Verbrechen im Sperrgebiet
Im Frühjahr 1986 verschwindet die elfjährige Nancy Gruppe aus Burg spurlos. Zwei Monate später machen Polizisten auf dem Elbe-Havel-Kanal eine grausame Entdeckung: In einem Jutesack liegt Nancys Leiche. Das Mädchen wurde erstickt und sexuell missbraucht. Die Ermittlungen der Morduntersuchungskommission Magdeburg und der Stasi laufen auf Hochtouren. Flugblätter, Plakate und sogar Lautsprecherwagen werden eingesetzt, um die Bevölkerung um Hilfe zu bitten – eine ungewöhnliche Maßnahme, die zeigt, wie ernst der Fall genommen wurde. Die DDR pflegte ein öffentliches Bild von Kriminalität, das eher von Kleinkriminellen bestimmt war; schwere Verbrechen wie dieses passten nicht ins Bild.

Eine heiße Spur führt zu einem „Onkel Wolfgang“, von dem Kinder erzählten, dass er Altstoffe sammelte und ihnen dafür Geld gab. Doch dieser „Onkel Wolfgang“ kann nie identifiziert werden. Um unauffällig in Wohnungen und Kellern zu ermitteln, geben sich die Beamten als Brandschutzkontrolleure aus. Doch auch diese umfassende Suche bleibt erfolglos, und der Fall wird auf Eis gelegt.

Erst 1995 wird der Fall von der Stendaler Mordkommission wieder aufgerollt, und der Journalist Bernd Kaufholz bringt ehemals geheime Details ans Licht. Ein Mann namens Helmut H., der zur Tatzeit in der Landwirtschaft wie Nancys Eltern arbeitete und keinen Führerschein hatte, gerät ins Visier. Die damaligen Ermittler hatten ihn aufgrund eines „Denkfehlers“ nicht beachtet, da sie davon ausgingen, dass er ohne Führerschein nicht fahren würde. Helmut H. soll Verbindungen zur Stasi gehabt und daher von den Ermittlern des MfS statt der Kripo verhört worden sein. Doch die letzte Chance zur Aufklärung zerschlägt sich: Kurz nach Veröffentlichung des Falls nimmt sich Helmut H. das Leben. Der Fall Nancy Gruppe ist bis heute ungeklärt.

Tod an der Kaserne: Zwei Brüder erschossen, die Stasi schweigt
1987, kurz nach dem Vorfall um Mathias Rust, sind die Nerven in der Sowjetarmee angespannt. In Fürstenberg, Ortsteil Trübenhorst, leben Uwe (19) und Christian Bär (16) mit ihrer Familie direkt neben einer sowjetischen Kaserne. Es ist für sie normal, dort im Wald Schrott und Flaschen zu sammeln. Am 11. Juni 1987 hören sie zwei kurze Feuerstöße aus einer Maschinenpistole. Ihre beiden Söhne Uwe und Christian wurden von einem jungen russischen Soldaten erschossen, der seit 24 Stunden Wachdienst schob. Offiziell hieß es, der Soldat sei angegriffen worden und habe in Notwehr gehandelt.

Das Stationierungsabkommen zwischen der Roten Armee und der DDR schloss die Anwendung deutschen Rechts aus, wenn der Sowjetsoldat die Tat im Dienst beging. Es gab keinen einzigen Fall, in dem ein sowjetischer Straftäter von deutscher Seite belangt wurde. Eine Strafverfolgung hätte ein Eingeständnis von Kriminalität innerhalb der Armee bedeutet, was offiziell nicht existieren durfte. Die Stasi-Unterlagen zeigen, dass die Tötung der Brüder nur eines von rund 300 Delikten sowjetischer Soldaten innerhalb von sechs Monaten allein im Bezirk Potsdam war.

Der Vater der Jungen, Horst Bär, wird wochenlang von mindestens drei inoffiziellen Mitarbeitern aus seinem Familien- und Freundeskreis bespitzelt. Die Stasi befürchtet Proteste gegen den „großen Bruder“ und zensiert sogar Todesanzeigen und Grabinschriften. Horst Bär kämpft um Aufklärung und nimmt sich einen Anwalt, Wolfgang Schnur. Doch Schnurs Versprechen, sich um den Fall zu kümmern, ist vorgetäuscht: Wolfgang Schnur ist selbst ein Stasi-Spitzel und leitet die gesamte Korrespondenz an die Stasi weiter. Zu einem Prozess gegen den sowjetischen Soldaten kommt es nie. Erst 1990 lässt Horst Bär die Grabinschrift für seine Söhne nachträglich im Sinne der Wahrheit gestalten.

Der Mord an Pastorin Waltraud Pieper: Ein weiterer Fall mit Stasi-Schatten
Wernigerode 1988: Die Pastorin und Seelsorgerin Waltraud Pieper verschwindet nach einem Sommerurlaub. Sie ist Mitglied im Weltkirchenrat, hat internationale Kontakte und setzt sich für Menschenrechte ein. In der DDR konnten Menschen von einem Tag auf den anderen verschwinden und in Bautzen wieder auftauchen, insbesondere kritische Kirchenleute, die Umweltschützern und Oppositionellen Schutz boten.

Anfang September finden zwei Schülerinnen ihre Leiche in einem Waldstück nahe der Zonengrenze. Die Pastorin wurde erwürgt. Die Grenznähe macht den Fall besonders heikel, da das Gebiet Sperrzone ist und Reisen dorthin genehmigungspflichtig waren. Die Stasi ist auch hier stark präsent und verfügt über die beste technische und materielle Ausstattung für Ermittlungen. Es kommt sogar zu Kompetenzstreitigkeiten am Tatort, da die Stasi der Rechtsmedizinerin aus Magdeburg den Zugang verweigert. Kurze Zeit später jedoch scheint die Stasi ihr Interesse am Fall zu verlieren, und die Akte bleibt dünn, was Gerüchte befeuert.

Die Kripo ermittelt monatelang, doch ohne Erfolg. Drei Jahre später, 1991, stößt der Kriminalist Bernd Lambrecht auf einen alten Verdächtigen: Ein 600-facher Straftäter, der kurz vor dem Mord nach Wernigerode gezogen war. Er hatte 22 Jahre im Gefängnis gesessen, weil er einen Jungen im Wald missbraucht und getötet hatte. Ein zerbrochenes Brillenglas am Tatort passt zu diesem Mann. Doch durch die Wirren der Wende sind viele Unterlagen verloren gegangen, und der Verdächtige, der heute wegen einer anderen Sexualstraftat im Maßregelvollzug sitzt, bestreitet den Mord an der Pastorin. Der Fall Waltraud Pieper ist bis heute ungeklärt.

Diese Fälle zeigen exemplarisch, wie die DDR-Behörden Verbrechen nicht nur vertuschten, sondern auch Ermittlungen behinderten und die Rechte von Opfern sowie ihren Angehörigen massiv beschnitten, um das offizielle Bild eines makellosen sozialistischen Staates aufrechtzuerhalten. Die Gerechtigkeit für viele kam, wenn überhaupt, erst nach dem Fall der Mauer.