Sommer 1990: Die DDR im Aufbruch – Zwischen Tanzflächen, Trümmern und Tischen

Der Sommer 1990 ist in der DDR eine Zeit des radikalen Wandels. Die D-Mark ist eingeführt, der Westen frei bereisbar, und die einst strikt getrennten Welten vermischen sich. Überall im Land ist der Umbruch spürbar – auf den Tanzflächen Ost-Berlins, in den zerfallenden Städten und an den Runden Tischen, wo ein neuer politischer Alltag beginnt.

Die mobile Disco: Ein DJ im Operncafé zwischen Ost und West
In Ost-Berlin legt DJ Jul, bürgerlich Ulrich Schleusner, im Operncafé unter den Linden auf. Die Zeiten, in denen er eine strikte Ost-West-Quote beachten musste, sind vorbei. Doch sein Job unterscheidet sich noch immer stark von dem seiner westdeutschen Kollegen. Jul ist ein „mobiler Diskjockey“. Er schleppt seine gesamte Ausrüstung – Verstärker, Mischpulte, Mikrofone, Abspielgeräte, Boxen, sogar Lichtanlagen – jeden Abend selbst an, da er sie aus Sicherheitsgründen nicht vor Ort lassen kann. In der DDR war der Begriff „Diskothek“ nicht wie international üblich ein fest installierter Raum, sondern ein Ort, der für eine Veranstaltung temporär vom DJ mit eigener Technik ausgestattet wurde.

Vor der Wende war der Beruf des Diskjockeys stark reglementiert. Man brauchte eine Berechtigung, die man durch Lehrgänge erwarb, die nicht nur technisches und musisches Wissen, sondern auch kulturpolitische Grundsätze vermittelten. Diskjockeys unterlagen staatlicher Kontrolle, und Agenten der Konzertagentur überprüften die Einhaltung der berüchtigten 60:40-Regel, die das Verhältnis von DDR- zu Westmusik vorschrieb. Doch angesichts eines „dünnen und flauen“ heimischen Musikmarktes umging man diese Vorgabe oft großzügig. Die Diskotheken dienten als Ventil für die Jugendlichen, eine Möglichkeit zur „Kanalisierung“, wo man über die Musikquote hinwegsehen konnte, um sie nicht „mit dem Kofferradio“ auf der Straße zu sehen.

Nach dem Fall der Mauer erlebt auch das Operncafé Veränderungen. Das „Niveau“ habe sich gesenkt, stellen die Mitarbeiter fest. Viele Besucher kommen nun, um „billig zu essen und billig zu trinken“, während andere neugierig „gucken“ kommen, wie es im Osten ist, so wie viele Ostdeutsche zuvor den Westen erkundeten. Auch für die DDR-Unterhaltungskünstler ändert sich viel. Während Helga Hanemann, eine bekannte Künstlerin, noch ihre Fans hat, kämpfen viele Kollegen mit „Dumpingpreisen“ aus dem Westen und müssen sich in einem neuen Umfeld von Kommerz und Konkurrenz zurechtfinden.

Der Palast der Republik im Zentrum Berlins, der ebenfalls ums Publikum und seine Zukunft kämpft, versucht mit zusätzlichen Angeboten die Menschen anzulocken. Er will seine ursprüngliche Vision als „Haus des Volkes“ verwirklichen, muss aber feststellen, dass das bisherige Publikum andere Dinge vorhat und das westberliner Publikum aufgrund eines „gespaltenen Images“ noch nicht gewonnen werden konnte.

Zerfall und Neuanfang: Görlitz kämpft um sein Erbe
Während sich das kulturelle Leben neu sortiert, offenbart sich in Städten und Dörfern der fortschreitende Verfall. Ein Beispiel ist Görlitz an der polnischen Grenze. Die einst stolze Stadt spiegelt heute die Tristesse einer geteilten Grenzstadt wider. Der von Kriegen weitgehend verschonte mittelalterliche Stadtkern und die repräsentativen Gründerbauten bilden ein „europaweit einmaliges Flächendenkmal“. Doch das, was Jahrhunderte überlebt hat, ist in nur 40 Jahren realem Sozialismus „verfallen, verkommen und buchstäblich verdreckt“.

Eine überparteiliche Bürgerbewegung, der „Aktionskreis Rettet die Stadt Görlitz“, hat sich gebildet, um dem Verfall entgegenzuwirken. Ihr Ziel ist es, Görlitz wieder zu einer Kultur- und Kongressstadt zu machen und Denkmäler wie das älteste Renaissancehaus Deutschlands, den Schönhof, zu rekonstruieren, um ein Zeichen zu setzen.

Runde Tische: Ein Vorgeschmack auf den demokratischen Alltag
Neben kulturellen und baulichen Umbrüchen vollzieht sich auch ein fundamentaler politischer Wandel. Bürgerinnen und Bürger verhandeln an Runden Tischen auf Augenhöhe mit Staatsvertretern – ein Novum und Vorgeschmack auf den demokratischen Alltag. In Quedlinburg im Harz verfolgt der Deutschlandfunkreporter Hansjürgen Fink die Arbeit eines solchen Runden Tisches. Moderiert von Pastorin Ursula Meckel aus Thale, spiegeln sich hier die Konfrontationen zwischen den alten Parteien und neuen Gruppierungen wider.

Diskussionen um den Bau eines Wasserbehälters zeigen die klassischen Fronten zwischen Umweltschützern und Technokraten. Das Misstrauen gegenüber Entscheidungen aus der Honecker-Zeit ist groß: „Gilt denn heute noch, was in der Honekerzeit unter Ausschluss der Öffentlichkeit und ohne Rücksicht auf die Umwelt genehmigt wurde?“. Die PDS, die Nachfolgepartei der SED, hat es schwer, Akzeptanz zu finden. Die Vorsitzende fühlt sich isoliert und muss sich Fragen nach der Herkunft von Parteieigentum wie dem „Haus der Einheit“ stellen lassen.

Trotz dieser Herausforderungen ermöglichen die Runden Tische den Bürgern erstmals Einblick in den Staatsapparat und die Verwaltungsangelegenheiten. Für Ludwig Müller vom Neuen Forum haben die Runden Tische einen „Übergangscharakter“, bis demokratische Wahlen stattfinden. Sie bewirken, dass die alten Strukturen nicht mehr „frei entscheiden können“ und jemand „ein Auge drauf hat“. Wolfgang Döcke vom Neuen Forum betont die „ganz neue persönliche Erfahrung“ im Umgang mit den Staatsorganen, nachdem die Bürger zuvor immer als „unmündig“ behandelt wurden.

Blick in die ungewisse Zukunft
Der Schriftsteller Erich Loest blickt bereits in die nahe Zukunft und misstraut den „Westimporten“ für die Führung der künftigen Landesparlamente und -regierungen. Die Personaldecke der Parteien ist dünn, und die Aufgaben in Ländern wie Mecklenburg-Vorpommern – mit bröckelnder Landwirtschaft, Schiffbau und Tourismus – sind gigantisch. Persönliche Opfer sind gefragt, und die Frage nach Lebensqualität und Karriere im Umbruchland ist allgegenwärtig.

Doch trotz aller Schwierigkeiten und Unsicherheiten ist klar: Die DDR im Sommer 1990 ist ein Land, das aufbricht. Freiheit und Demokratie müssen gelernt werden, nicht nur von den Ostdeutschen, sondern im Miteinander. Es ist eine Zeit des Abschieds vom Alten und des vorsichtigen Betretens eines noch unbekannten neuen Weges.