Während sich die Staatsführung in Ostberlin am 7. Oktober 1989 in Feierlaune zum 40. Geburtstag der DDR präsentierte, bot sich in der Leipziger Innenstadt ein düsteres Bild. Was als angespannte Ansammlung von Menschen nach dem Friedensgebet begann, eskalierte schnell in eine bis dahin ungesehene Brutalität der Staatsorgane, die als verzweifeltes letztes Aufbäumen eines untergehenden Regimes in die Geschichte eingehen sollte.
Die Atmosphäre in Leipzig war bereits vor dem offiziellen Demonstrationsgeschehen aufgeladen. Menschen strömten zusammen, „die hinter der Nikolaikirche auf dem eingeengten Platz sich sammelten und eigentlich auch nicht richtig wussten, was sie dort machen sollen, außer da sein und sich angespannt fühlen“. Für die Volkspolizei und Stasi reichte jedoch schon die bloße Anwesenheit, um einzugreifen. Einzelne Personen wurden willkürlich aus der Menge gezogen und auf Polizeilastwagen verfrachtet. Familien mit Kindern gerieten in das Chaos, rannten um ihr Leben, wurden „über den Platz getrieben, auch geschlagen, fielen, stürzten, waren entsetzt“.
Die Brutalität erreichte ein noch nie dagewesenes Ausmaß für den „normalen DDR-Bürger“. Der originale Polizeifunk, teilweise erhalten geblieben, zeugt von der gnadenlosen Anweisung: „Schlagstock frei, nach unten alle Fallbrücken… setzen sie jetzt den langen Schlagstock ein. Die Vierbeiner dazu, das geht dann Leine lang hier“. Mit „Zeug“ meinte die Volkspolizei die Menschen auf der Straße, die in Laufschritt „in Richtung Dömaskirche“ geräumt werden sollten.
Selbst Frauen wurden zu Boden geschlagen. Martina Gruse erinnert sich, wie sie von der Polizei mit Gummiknüppeln und Schilden attackiert wurde, als sie sich nach Polizisten mit Hunden umdrehte. Nur durch das Eingreifen ihrer Tochter konnte sie gerettet werden, erlitt Schmerzen und musste krankgeschrieben werden.
Doch die Gewalt ging über das bloße Prügeln hinaus. Peter Römer, damals Wehrpflichtiger bei der Bereitschaftspolizei, weigerte sich, mit dem Knüppel zuzuschlagen. Er beschrieb, wie aus den Demonstranten herausgerissene Personen „zusammengeschlagen, an den Füßen gepackt und übers Pflaster gezerrt wurden und auf den LKW geworfen wurden“, wie „Mehlsäcke“. Die Stasi-Akten bestätigen diese Rohheit, dokumentieren einen gebrochenen Zeigefinger eines Demonstranten. Der Schriftsteller Michael Schameit, ebenfalls grundlos festgenommen, bezeugte in seiner Strafanzeige die brutalen Übergriffe im Volkspolizeikreis. Er sah einen blutüberströmten jungen Mann mit einer riesigen Beule am Schädel und einer stark blutenden Platzwunde. Später wurde ein weiterer Mann mit identischen Verletzungen und blutgetränkter Kleidung gesehen.
Die Festgenommenen, darunter auch Schameit, wurden über Nacht in die Pferdeställe der DDR-Landwirtschaftsmesse Agrar gesperrt. Frank Adler, ein weiterer Inhaftierter, schildert, wie sie von einem großen Lkw rückwärts an die Ställe gefahren und dann „hinuntergestoßen“ wurden, wobei „Tritte verteilt oder Ausschläge mit dem Gummiknüppel“ stattfanden. Die Anweisung lautete: „immer neun Stück in eine Box“. Die entmenschlichende Sprache, von „Stück“ statt von Personen zu sprechen, lässt tief blicken, was dort geschah.
Die Inhaftierten mussten die ganze Nacht „schlaflos und stehend auf dem kalten Beton“ verbringen, schlechter als ein Pferd, das zumindest Strom und einen Liegeplatz gehabt hätte. Kälte war ein großes Problem, da niemand auf diese Situation vorbereitet war und sich warm genug angezogen hatte, was bei Frank Adler später zu Nierenproblemen führte. Doch das Schlimmste waren oft nicht die körperlichen Misshandlungen.
Frank Adler erinnert sich an eine junge Frau in der Nachbarbox, die die ganze Nacht flehte, man möge ihr zuhören, sie habe ein kleines Baby zu Hause und sei willkürlich beim Einkaufen verhaftet worden. „Nicht einer dieser Polizisten hat sich dieser Frau erbarmt. Keiner fühlte sich verpflichtet, weder dienstlich noch moralisch noch menschlich. Nichts.“. Was aus ihr und ihrem Baby wurde, konnte bis heute nicht aufgeklärt werden.
Der Großteil der über 200 Eingesperrten wurde am nächsten Tag freigelassen. Doch die Bilder und Erfahrungen des 7. Oktobers hatten sich eingebrannt. Der Bundesbeauftragte Roland Jahn bewundert den Mut der Leipziger Demonstranten. Denn wo am 7. Oktober noch 7.000 Menschen auf der Straße waren, trotzten nur zwei Tage später, am 9. Oktober, bereits 70.000 Menschen der demonstrativen Brutalität der Staatsorgane. Der Einsatz in Leipzig war „das letzte Aufbäumen des DDR-Staatsapparates, hier die Menschen zu unterdrücken“.
Es wurde versucht, Angst zu erzeugen – der „Kitt der Diktatur“. Doch die Menschen ließen sich nicht einschüchtern. Dass sie trotzdem den Weg auf die Straße wagten, ist bis heute bewundernswert und „der Wegbereiter der deutschen Einheit gewesen“. Angesichts der zehnfachen Menschenmenge fehlte den Machthabern in der DDR dann doch die Skrupellosigkeit zu einem Massaker. Der 7. Oktober 1989 bleibt ein mahnendes Zeugnis der Brutalität eines Regimes und des unerschütterlichen Mutes der Menschen, die es zum Fall brachten.