BERLIN/ZITTAU/LEUNA – Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) präsentierte sich der Welt als „blühendes Land“, das „bessere Deutschland dank Sozialismus“. Doch hinter dieser glänzenden Fassade verbarg sich eine Realität, in der Anspruch und Wirklichkeit oft weit auseinanderklafften und viele Wahrheiten erst Jahre nach dem Mauerfall ans Licht kamen. Eine genaue Betrachtung der Geschichte dieses verschwundenen Landes offenbart eine Vielzahl von Geheimnissen, die die Menschen bis heute prägen.
Die Ikone und der Widerstand: Frieda Hockaufs verborgene Geschichte
Ein Paradebeispiel für die Diskrepanz zwischen Propaganda und Alltag ist die Weberin Frieda Hockauf aus Zittau. 1953 stieg sie zu einer Ikone der DDR auf, als es ihr gelang, in nur drei Monaten 45 Meter mehr Stoff zu weben als die Norm verlangte. Die SED ehrte sie als „Held der Arbeit“, machte sie zum Vorbild einer Aktivistenbewegung und nutzte sie, um die wirtschaftliche Überlegenheit der DDR zu demonstrieren und insbesondere Frauen zu höherer Produktivität anzuspornen. Frauen galten als die einzige Arbeitskräftereserve der DDR, ähnlich wie Gastarbeiter im Westen eingesetzt wurden.
Doch die wahre Geschichte Hockaufs wurde der Bevölkerung verschwiegen. Längst nicht alle Kolleginnen folgten ihrem Beispiel; im Gegenteil, sie wurde als „Normbrecherin“ und „Verräterin“ beschimpft. Eier und Steine flogen, ihr Mann musste sie abends von der Schicht abholen, und ihr Webstuhl wurde sabotiert. Menschen, die doppelt so viel in der gleichen Zeit schaffen, erregen oft Widerspruch. Als Hockauf schwer herzkrank wurde, konnte die Partei sie nicht länger auf das Podest stellen, denn wer nicht funktioniert, wird fallengelassen. Ihre Nachbarin fasste es treffend zusammen: „Arm geboren und arm gestorben“.
Wirtschaftliche Krisen und der Widerhall der Arbeiterwut
Die DDR-Wirtschaft kämpfte kontinuierlich mit Problemen. Trotz der Abschaffung von Lebensmittelkarten Ende der 50er Jahre blieb die Wirtschaftsleistung ein Drittel hinter der Bundesrepublik zurück. Die Verantwortlichen waren sich der suboptimalen Situation bewusst, sahen dies aber als „Kinderkrankheiten“. Eine folgenschwere Entscheidung war die Zwangskollektivierung der Kleinbauernhöfe im Jahr 1960, die statt Modernisierung zunächst eine Missernte zur Folge hatte und die Lebensmittelknappheit verschärfte. Investitionen flossen hauptsächlich in die Schwerindustrie, wo es ebenfalls an Mitteln und Arbeitskräften mangelte – ein „Teufelskreislauf“, der 1961 zum Mauerbau führte, um die Volkswirtschaft „planbar zu machen“.
Inmitten dieser Krise, Anfang der 1960er Jahre, kam es in der DDR zu Hunderten „Wilder Streikes“, insbesondere in den industriestarken Bezirken wie Halle, wo sich die Leunawerke befanden. Ein Vorfall im Mai 1962 in Leuna, bei dem ein Maler aus Leipzig wegen fehlenden Essens eine Verkäuferin über die Theke ziehen wollte und Arbeiter mit Streik drohten, ist symptomatisch für die angespannte Lage. Obwohl die DDR-Zeitungen über solche Streiks schwiegen, kursierten Gerüchte, die im Westen, etwa in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, aufgegriffen und teils dramatisiert wurden. Die vielen echten Streiks setzten die DDR-Führung unter Druck und führten kurzzeitig zu Überlegungen über Wirtschaftsreformen mit mehr Eigenständigkeit für Betriebe, die jedoch aus Angst vor Kontrollverlust wieder gestoppt wurden.
Die „Wochengrippenkinder“: Eine Kindheit im Heim und ihre Spätfolgen
Um die Frauen als Arbeitskräfte in die Berufstätigkeit zu integrieren, bot der Staat Kinderbetreuung an, insbesondere für Alleinstehende ohne familiäres Hinterland. Ab der sechsten Lebenswoche konnten Kinder in sogenannten „Wochengrippen“ untergebracht werden, wo sie die Eltern nur am Wochenende sahen. Obwohl als „gute Versorgung“ propagiert, waren diese Einrichtungen in der Realität eher Kinderheime.
Die Ärztin Eva Schmidtkolmer untersuchte Anfang der 1950er Jahre den Gesundheitszustand von Krippenkindern. Ihre dramatischen Befunde, die nur in Fachkreisen bekannt wurden, zeigten, dass Wochengrippenkinder in allen Bereichen hinter Altersgenossen zurückblieben und Zeichen von Hospitalismus aufwiesen: Ausdruckslosigkeit, Schaukeln des Oberkörpers, Kopfschütteln im Gitterbett, verzögerte Sprachentwicklung und auffälliges Verhalten. Trotz Warnungen vieler Kinderärzte wurden diese Erkenntnisse der Öffentlichkeit vorenthalten und Schmidtkolmer mundtot gemacht.
Heike Liebsch, die für ihre Doktorarbeit 60 ehemalige Wochengrippenkinder interviewte, berichtet von gestörten Elternbeziehungen, Partnerschaftsschwierigkeiten, Problemen mit den eigenen Kindern und immer wieder von Ängsten. Sie selbst erfuhr erst im Erwachsenenalter, dass sie vier Jahre lang fixiert worden war, was ihr geholfen hat, ihre eigenen Ängste zu verstehen. Die Studien über die negativen Auswirkungen der Wochengrippen wurden bis zum Ende der DDR behindert und erst 1992 veröffentlicht, da sie den Mythos einer sich steigernden Produktion ohne menschliche Kosten beschädigten.
Die „Waffenbrüderschaft“: Schutzmacht, Geheimnisse und menschliche Dramen
Ein zentraler Gründungsmythos der DDR war die Freundschaft mit der Sowjetunion, den „Befreiern vom Nationalsozialismus“. Doch auch hier herrschte ein Ungleichgewicht. Karl Wilhelm Wichmann, der 1946 Kritik an der sowjetischen Besatzungsmacht übte, etwa an der Bodenreform oder der Wegnahme von Radios, wurde vor ein sowjetisches Militärtribunal gestellt und zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Torgau und Sachsenhausen waren einige der zehn Speziallager, die die Sowjets betrieben und in denen ein Drittel der über 122.000 Insassen Hunger, Krankheiten und brutale Behandlung nicht überlebte – im Prinzip eine Übertragung des sowjetischen Gulag-Systems auf Deutschland. Wichmann wurde erst 1954 freigelassen und durfte über seine Haftzeit nicht sprechen.
Die in der DDR stationierten sowjetischen Truppen schotteten sich hermetisch ab. Was hinter den Sperrzonen geschah, war Staatsgeheimnis. Gerüchte kursierten, nicht zuletzt wegen Vorfällen wie dem Absturz eines sowjetischen Militärflugzeugs 1966 im sächsischen Vollbahn, bei dem die deutschen Behörden von der Löschung abgehalten wurden und das Ereignis vertuscht wurde. Das Sperrgebiet um den Militärflugplatz Großenhain bei Dresden, wo 6.000 Soldaten stationiert waren, beinhaltete ein Sonderwaffenlager namens „Granit“. Gerüchte über die Lagerung von Atomwaffen kursierten, die sich 1973 durch die Flucht eines russischen Flugzeugtechnikers mit einer Suchoi 7 BM und die Funde der westlichen Geheimdienste erhärteten. Historiker Matthias Ul fand 2020 in russischen Archiven Beweise dafür, dass Nuklearwaffen seit 1963 in Großenhain stationiert waren. Die DDR-Führung selbst wusste zwar von Nuklearwaffen auf ihrem Territorium, aber nicht, wo genau.
Die „Waffenbrüderschaft“ war kein Verhältnis auf Augenhöhe. Die Lebensverhältnisse der sowjetischen Soldaten waren ärmlich und von Gewalt geprägt, es gab keine Privatsphäre und ein brutales Regime unter den Generationen, das zu Verzweiflungstaten, Kriminalität und tausenden Desertationen führte. Die Schicksale von Deserteuren, die teils gewaltsam zu Tode kamen, wurden vor der DDR-Bevölkerung verborgen. Auch persönliche Beziehungen zwischen sowjetischen Soldaten und ostdeutschen Frauen waren meist untersagt, da Offiziere Geheimnisträger waren und die Frauen als Spione diffamiert wurden. Renate Walter, ein sogenanntes „Russenkind“, erfuhr erst als Rentnerin die tragische Geschichte ihres Vaters, eines sowjetischen Soldaten, der wegen seiner Beziehung unehrenhaft entlassen und schließlich an den Spätfolgen einer Schussverletzung starb.
Antifaschismus als Staatsdoktrin: Der Umgang mit der braunen Vergangenheit
Die Bekämpfung des Nationalsozialismus, von der DDR „Faschismus“ genannt, war der zentrale Gründungsmythos des Staates. Nach der offiziellen „Entnazifizierung“ 1950, mit Schnellverfahren gegen rund 3300 NS-Verdächtige, hieß es, Nazis gäbe es nur noch im Westen. Doch auch hier gab es dunkle Flecken. Ernst Grossmann, ein ehemaliger Angehöriger eines SS-Totenkopfverbandes und Wachmann im KZ Sachsenhausen, wurde als „Held der Arbeit“ und Musterbeispiel der Propaganda gefeiert. Obwohl die Stasi Hinweise auf seine Vergangenheit hatte, saß er jahrelang für die SED im Rat des Bezirkes Erfurt. Die DDR verfolgte zwar Nazi- und Kriegsverbrecher, lud aber die breite Mehrheit zur Integration ein, nach dem Motto: Wer sich für den demokratischen Aufbau einsetzt, muss nicht über seine Sünden der Vergangenheit sprechen.
Ein späterer Propagandaerfolg war der Prozess gegen den Kriegsverbrecher Heinz Barth 1983, der am Massaker von Oradour beteiligt war. Obwohl der Prozess weltweit Beachtung fand, wurden zwei weitere Mörder von Oradour, die ebenfalls beteiligt waren, nicht angeklagt. Barth wurde zu lebenslanger Haft verurteilt und knüpfte im Gefängnis Freundschaften mit jungen Neonazis, darunter Ingo Hasselbach. Barth vermittelte den Jugendlichen sein rechtsextremes Weltbild, ohne Reue oder Mitgefühl zu zeigen.
Der Aufstieg des Rechtsradikalismus: Eine unbequeme Wahrheit
Die rechten Jugendlichen wurden zu einem sichtbaren Problem in der DDR. Eine geheime Studie der Humboldt-Universität Berlin zeigte, dass junge Neonazis zu 80 Prozent aus „soliden“ Elternhäusern stammten und nicht aus gestörten Familienverhältnissen. Mit dem Autoritätsverlust der Elterngeneration und dem Fehlen neuer Autoritäten verfielen viele Jugendliche gewalttätigen rechtsradikalen Bewegungen.
Das Benutzen von Nazi-Symbolen und die Negierung des Antifaschismus waren die stärkste Provokation für den antifaschistischen Staat. Gleichzeitig verkörperten diese Strömungen Werte wie Ordnungs- und Sicherheitsdenken sowie eine gewisse Fremdheit gegenüber anderen Kulturen, die durchaus in der DDR-Gesellschaft verbreitet waren. So entstand eine „stillschweigende Übereinkunft“ zwischen den radikalen Szenen und größeren Teilen der Bevölkerung, die bis heute wirkt.
Die Geheimnisse, die die DDR vor ihren Bürgern verbarg – sei es über die wahre Lage der Wirtschaft, die Auswirkungen der Kinderbetreuung, die Realität der sowjetischen Präsenz oder den widersprüchlichen Umgang mit der NS-Vergangenheit – trugen maßgeblich zum Autoritätsverlust der Führung bei. Als die Menschen 1989 die Mauer zu Fall brachten und 1990 die Stasi-Zentrale stürmten, wurde klar: Die DDR barg noch viele weitere Geheimnisse.