Es war die Stille vor dem Sturm. Das Jahr 1978 neigte sich dem Ende zu, und Weihnachten war, wie so oft, schneefrei geblieben. Die Temperaturen lagen am 28. Dezember um die 12 Grad Celsius, ein ungewöhnlich milder Winter. Die Menschen in beiden deutschen Staaten genossen die Feiertage in warmen Wohnungen, die Kühlschränke voll. Doch am Abend des 28. Dezembers berichtete die Tagesschau von leichten Wetterveränderungen: Für den Norden wurden „länger anhaltende Niederschläge östlich der Elbe Schnee, sonst Regen“ vorhergesagt, mit Tiefsttemperaturen zwischen 2 und minus 3 Grad Celsius. Niemand ahnte, dass dies der Auftakt zu einer Jahrhundertkatastrophe war, die „das ganze Land, die ganze DDR, sondern betraf halb Europa“ treffen würde.
Der plötzliche Kälteeinbruch: Von mild zu eisig in Stunden
Was am 29. Dezember begann, war eine einzigartige Wetterkonstellation. Ein stabiles, sehr mildes Tiefdruckgebiet im Süden sorgte für schneefreie Alpen und über die Ufer tretende Flüsse, während im Norden ein Hochdruckgebiet mit extremen Minustemperaturen und stark böigem Wind herrschte. Dieses eiskalte Hoch hatte sich seit Wochen über Nordeuropa aufgebaut und erreichte am 29. Dezember das Festland im Bereich der südlichen Ostsee. Es schob sich wie ein Keil unter die feucht-warme Luft, was einen gefährlichen „Cocktail“ hervorrief: Regen, der sofort zu Glatteis gefror, gefolgt von Eisregen, Temperaturstürzen von bis zu 30 Grad und schließlich Schneefall, der sich zu einem Schneesturm entwickelte.
Die polnische Hafenstadt Gdingen war die erste Station des Sturms auf dem Festland, wo man bereits minus 18 Grad Celsius maß und der Verkehr sowie das öffentliche Leben nach fast einem Meter Neuschnee innerhalb weniger Stunden zusammenbrachen. In Berlin wurden die ersten Hiobsbotschaften aus dem Norden und Polen zunächst als regionale Übertreibungen abgetan. Im Energieministerium der DDR, das eine Wetterwarnung erhalten hatte, rechnete man nicht mit dem Ausmaß der Katastrophe. Die Energieerzeugung der DDR war ohnehin prekär und stark wetterabhängig, da sie fast ausschließlich auf Braunkohle basierte. Der Regen der Vorwochen hatte die Tagebaue in Schlamm verwandelt, was zu Planrückständen führte.
Chaos auf Straßen und Inseln: Gestrandet in Eis und Schnee
Der Sturm machte auch vor der westdeutschen Grenze nicht Halt. In Schleswig-Holstein wurden am Nachmittag des 29. Dezembers erste kleine Straßen, später auch die Autobahn nach Hamburg, unpassierbar. Die Familie Kenner, auf dem Heimweg aus dem Winterurlaub in Finnland, wurde in Dänemark vom Sturm eingeholt und saß fest. Sie verbrachte die Silvesternacht in ihrem Auto bei fast leerem Tank, eingepackt in Wolldecken, immer wieder den Auspuff vom Schnee befreiend, um nicht zu ersticken. Sie waren müde, hungrig und am Verzweifeln. Erst am 3. Januar durfte die Familie unter eigener Gefahr die deutsch-dänische Grenze passieren. In Husum angekommen, wurde Werner Kenner jedoch von der Polizei festgenommen, weil er trotz Fahrverbots unterwegs war.
Besonders dramatisch entwickelte sich die Lage auf der Insel Rügen. Der Rügendamm, die einzige Versorgungsachse zum Festland, wurde über Nacht am 30. Dezember unpassierbar, da sich Schneewehen bis zu fünf Meter hoch aufgetürmt hatten. Die Insel war von der Außenwelt abgeschnitten. Der Hotelchef Wilfried Rothkirch, der eine Silvesterparty für 600 Gäste vorbereitete, musste die gesamte Feier absagen und sah seine monatelangen Vorbereitungen zunichtegemacht. Ältere Reisegesellschaften im Hotel litten unter Medikamentenmangel, was zu Komplikationen führte.
Der Frauenarzt Wolfgang Güttler vom Kreiskrankenhaus Bergen wurde aus dem Urlaub zurückgerufen, um eine spätgebärende Mutter in Trend abholen, einem 20 Kilometer entfernten Ort. Sein Panzer blieb jedoch in einer meterhohen Schneewehe stecken. Er verbrachte die Nacht bei minus 18 Grad Celsius im eiskalten Fahrzeug. Am Silvestermorgen half er der hochschwangeren Patientin in einer örtlichen Schwesternstation, das Kind zur Welt zu bringen – bei Stromausfall und ohne Hebamme, nur mit dem Licht einer Taschenlampe einer Schwester. Der gesunde Knabe wurde geboren, und Güttler feierte spontan Silvester mit den Einheimischen. Am Neujahrstag wurde er schließlich per Militärhubschrauber mit weiteren vier hochschwangeren Frauen von der Insel ausgeflogen und in die Stralsunder Geburtsklinik gebracht. Alle Mütter und Babys überlebten. Güttler kehrte am 3. Januar, seinem 40. Geburtstag, nach fünf Stunden Fußmarsch bei minus 10 Grad Celsius nach Bergen zurück.
Energie-Blackout und wirtschaftlicher Kollaps in der DDR
Der strengste Dauerfrost seit Beginn der Wetteraufzeichnung (minus 18,6 Grad Celsius in Berlin am Neujahrsmorgen) verschärfte die Lage. Die DDR, deren Wirtschaft auf einer straffen Planwirtschaft basierte, sah sich einem fast totalen Zusammenbruch gegenüber. Die Braunkohletagebaue, der Hauptenergielieferant, waren durch den Temperatursturz zu einer Eiswüste geworden, Kohle und Abraum ließen sich kaum noch bewegen. Selbst Kohlezüge konnten nicht mehr entladen werden.
Am Neujahrstag traf die Zentrale Katastrophenkommission der DDR zum ersten Mal seit Beginn des Sturms zusammen und gab den Einsatz der Nationalen Volksarmee (NVA) frei. 18.000 Soldaten, Kampfpanzer und Marinehubschrauber rückten aus, um Autobahnen zu räumen, abgeschnittene Dörfer zu versorgen und die Braunkohlegruben wieder in Gang zu bringen. Trotz dieser Maßnahmen waren radikale Schritte notwendig.
Energieminister Klaus Siebold ließ in Leipzig und Rostock den Strom kappen, da die Braunkohleförderung nur noch die Hälfte des Bedarfs deckte. Landwirtschaftsbetrieben wurde der Strom entzogen, was zum Tod von Tausenden Ferkeln und Kälbern führte, die unter Rotlichtlampen gehalten wurden. Ulrich Lau, Abteilungsleiter eines volkseigenen Gutes auf dem Darß, kämpfte mit seinen Bauern darum, 7000 Rinder zu versorgen, die in zugeschneiten Ställen erfroren. Auch 3000 Schafe, die tagelang draußen im Schnee standen, mussten geborgen werden.
Der Energieingenieur Axel Rainer Porsch in Erfurt erlebte am Neujahrstag um 15:03 Uhr den Befehl aus Berlin: „Stufe IX ist unverzüglich zu schalten“. Dies bedeutete den ersten Totalkollaps eines Gebietes wie Thüringen in der 30-jährigen Geschichte der DDR. Große Teile der Bezirke Erfurt, Gera und Suhl waren ohne Strom, Wasser und Heizung. Porsch musste verzweifelte Anrufe entgegennehmen, beispielsweise von einer Mutter im elften Stock mit einem Säugling, die keine Flasche wärmen konnte.
Folgen und Lehren
Die Katastrophe hatte weitreichende Konsequenzen. Über 90 Prozent der DDR-Betriebe meldeten Störungen und Ausfälle, der Produktionsbeginn musste verschoben werden. Es folgte eine wirtschaftliche Katastrophe: Der Gesamtschaden erreichte 8 Milliarden Mark in der DDR, ein Vielfaches der Schäden im Westen. In Westdeutschland waren die Probleme leichter zu beherrschen, mit Reparaturtrupps, die per Hubschrauber entsandt wurden. Der Pressefotograf Kai-Uwe Kaiser gelang aus einem Helikopter das Titelbild des Stern: Eine Autobahn, die wie von einer „Katze mit Regenpfoten über ein weißes Bettlaken getappt“ aussah, übersät mit eingeschlossenen Autos.
Während der Westen 18 Todesopfer zu beklagen hatte, sind für die DDR keine offiziellen Statistiken bekannt. Recherchen ergaben jedoch 18 Verkehrstote bei 700 Unfällen, 440 Verletzte, zuzüglich Menschen, die in ihren Fahrzeugen erfroren oder überrollt wurden.
Die Katastrophe offenbarte die Verwundbarkeit der DDR-Wirtschaft. Die Staatssicherheit konstatierte einen massiven Vertrauensverlust der Bevölkerung in die Regierung, da „in einem sozialistischen Staat mit straffer Planwirtschaft nach 30-jährigem Bestehen bereits in wenigen Tagen ein fast totaler Zusammenbruch der Wirtschaft möglich ist“. Die DDR kämpfte noch Jahre mit den Folgen dieser sechs Tage Eiszeit. Für manche war es der „Anfang vom Ende“, für andere ein einmaliges Erlebnis und ein Test des menschlichen Zusammenhalts.