Die Winter in der Deutschen Demokratischen Republik waren oft eine unerbittliche Prüfung für Mensch und Maschine, ein fortwährender Kampf gegen Eis und Schnee. Besonders in Regionen wie dem Erzgebirge herrschten arktische Temperaturen von bis zu -25°C und Schneeverwehungen, die bis zu 5 Meter hoch wurden, was Orte über 200 Tage im Jahr von der Außenwelt abschnitt. Doch die DDR nahm den Kampf gegen die Elemente an, nicht zuletzt, um ihre Überlegenheit zu demonstrieren.
Von Muskelkraft zu Maschinen: Der Wandel des Winterdienstes
Vor den 1960er Jahren war der Winterdienst in der DDR weitgehend improvisiert und basierte auf reiner Muskelkraft. Es war normal, dass Orte nach starken Schneefällen erst am nächsten Tag wieder erreichbar waren, da die Bewohner Gänge durch den Schnee gruben oder einfach nicht zur Arbeit gingen. Wolfgang Schlegel, ein Technologe bei der Deutschen Reichsbahn, beschrieb, wie über 130 Weichen allein in seinem kleinen Stellwerksbezirk Wustermark bei Berlin 24 Stunden am Tag vor Vereisung geschützt werden mussten. Dies war ein Mammutprogramm, das viele Helfer erforderte, wobei die Sicherungsposten oft nicht ausreichten, was auch zu tödlichen Unfällen führen konnte.
Doch Mitte der 60er Jahre begann eine neue Ära. Die DDR hatte große Pläne für den Fichtelberg – ein „St. Moritz des Ostens“ sollte entstehen, erreichbar für Zehntausende Touristen, sobald alle Straßen befahrbar waren. Dies führte zu einem organisierten Winterdienst, der einen enormen Fortschritt darstellte. Der Rat des Bezirks, quasi der Generalstab, konnte zusätzliche Arbeitskräfte und Fahrzeuge aus der Industrie anfordern. Bei Einsatzstufe 3 bedeutete dies einen „großen Befehl“: Alles stehen und liegen lassen und alles, was zur Verfügung steht, dem Winterdienst zur Verfügung stellen, „koste es, was es wolle“.
Die „Große Winterschlacht“ und ihre Helden
Die 60er Jahre waren geprägt von Schlagzeilen über Schneechaos auf Straßen, Schienen und in Tagebauen. Nahezu jeden zweiten Winter lieferten sich Bevölkerung und Truppenteile der Nationalen Volksarmee (NVA) eine mehrtägige Schlacht gegen den Schnee. Das DDR-Fernsehen verkündete wiederholt den Ausnahmezustand. Tausende zogen mit Schippe, Filzstiefeln und Wattejacken in diese „große Winterschlacht“.
Seit den 60ern wurden jährlich „Wochen der Winterbereitschaft“ als Trockenübungen anberaumt, um die Einsatzbereitschaft zu überprüfen und das Einsatztempo des Straßenwinterdienstes zu erhöhen. Diese Überprüfungen, obwohl manchem übertrieben erscheinend, waren notwendig und funktionierten fast immer.
Anfang der 70er Jahre investierte die DDR massiv in Schneeräumtechnik, insbesondere in sowjetische Bauart. Maschinen wie die russische Zielfräse, mit einem halben Panzermotor unter der Haube, waren Kraftprotze ohnegleichen, robust, widerstandsfähig und kräftig. Die Fahrer dieser Schneepflüge und -fräsen waren regelrecht „heiß darauf“, mit diesen Geräten hinauszufahren und galten im Erzgebirge als „King of the Road“. Ein entscheidender Faktor war die DDR-Winterordnung, die gesetzlich festlegte, dass Straßen innerhalb von zwei Stunden nach einem Schneefall geräumt und gestreut sein mussten. Im Gegensatz zu heute hatten die Bürger einen Rechtsanspruch darauf, was den Stolz der DDR auf ihren Winterdienst unterstrich, da man „besser sein wollte als der West“. Jährlich wurden die Zahlen der Winterflotte präsentiert: über 9.000 Schneepflüge, 175 große Schneefräsen und 36.000 Menschen im Straßenwinterdienst, sowie bis zu 20.000 bei der Reichsbahn.
Die Katastrophe von 1978/79: Eine Bewährungsprobe
Der Jahreswechsel 1978/79 brachte eine gewaltige Herausforderung. Wolfgang Schlegel erfuhr, wie plötzlich Meldungen von 2 Meter hohen Verwehungen und zum Erliegen gekommenem Bahnverkehr in Stralsund aufkamen, während ein Nordsturm mit 100 km/h auf Wustermark zuraste. Seine Bitte, Einsatzstufe 3 auszulösen, wurde brüsk abgewiesen. Innerhalb von Stunden sanken die Temperaturen um 30 Grad.
Die Katastrophe offenbarte Schwachstellen: Der Diesel für den Meiningen-Schneepflug, den die Reichsbahn gebaut hatte, flockte bei den tiefen Temperaturen aus, was den Motor unbrauchbar machte. Schlegel improvisierte, baute sich selbst ein Kabel, um Strom von einer Lok zu zapfen, da sich Elektriker weigerten, eine „verbotene“ Verbindung zu erstellen. Viele ausgebildete Schneepflugführer meldeten sich krank aus Angst vor den gefährlichen Bedingungen und der Unkenntnis der Strecke. Schlegel musste den Schneepflug selbst bedienen, obwohl er nur Bahntechnologe und nicht ausgebildet war. Er fuhr mit 60 km/h, doppelt so schnell wie vorgeschrieben, da der Schneepflug sonst keine Chance gehabt hätte. „Wenn irgendwas passiert wäre, mich hätten sie wahrscheinlich eingesperrt“, so Schlegel.
Auf Rügen, wo die Insel faktisch abgeschnitten war, mussten Schneepflüge erst im Schnee gesucht werden. Heinz Mittelbach, aus der Karl-Marx-Städter Zentrale entsandt, beschrieb die Ankunft auf Rügen nach einem Tag Fahrt durch den Schnee, wo man ihnen sagte, sie seien zu langsam gewesen. Ein riskantes Experiment der NVA mit einer Fräse kostete ihn einen halben Tag und fast die ganze Maschine. Mittelbach entwickelte eine neue „Fräsen-Kampfsporttechnik“ – das „Wehen reiten“, bei dem sie auf Schneeverwehungen fuhren, um voranzukommen. Dies führte zum Durchbruch und ermöglichte Hilfstransportern, die seit Tagen isolierten Orte zu erreichen.
Doch auch dabei kam es zu Unfällen. Ein NVA-Hauptmann, der als Ersatz für einen ermüdeten Fahrer einsprang, beschädigte mit dem Schnee einer Fräse eine Fensterscheibe eines Hauses. Die eingesetzten Räumpanzer gruben „unterwegs noch ganz andere Sachen auf“.
Spätere Jahre: Überalterung und Verfall
Anfang der 80er Jahre zeigte das Winterkatastrophenmanagement zunehmend Schwächen. Die Fahrzeugflotte des Straßenwinterdienstes war überaltert und marode, der Reparaturaufwand hoch und der Verschleiß machte es immer schwieriger, Fahrzeuge am Laufen zu halten. Hinzu kamen Beschwerden über Streusalz, das die Straßen zerstörte und zu immer größeren Schlaglöchern führte. Mit nur 10% des früher eingesetzten Bitumens konnten Straßenbauer im Wesentlichen nur Löcher flicken.
Die massive Zunahme sozialistischer Straßenhindernisparcours führte zu kuriosen Protesten: Bürger pflanzten kleine Fichten in die Schlaglöcher, was zu einem „echten Politikum“ wurde und die Staatsmacht irritierte. Diese „charmanten Provokationen“ erzwangen immerhin ein paar zusätzliche Reparaturen. Das wahre Ausmaß des Verfalls wurde erst 1990 publik: Über die Hälfte der 120.000 km öffentlichen Straßen der DDR befand sich in desolatem Zustand.
Trotz dieser internen Probleme hielt die DDR bis zuletzt an ihrem Stolz auf den Winterdienst fest. Regelmäßig wurden Verkehrskollapse im Westen thematisiert, um die eigene Leistungsfähigkeit hervorzuheben. Auch wenn selbst im Erzgebirge „Wunder“ nicht möglich waren und eine zugeschneite Straße manchmal monatelang gesperrt blieb, war der Anspruch, bis zum letzten Meter zu räumen, omnipräsent. Der Winter war in der DDR nicht nur eine Jahreszeit, sondern eine fortwährende Herausforderung, die mit enormer Anstrengung und vielerorts mit großer Hingabe gemeistert wurde.