Der „Diebstahl der Kindheit“: Wie die DDR Familien auseinanderriss

Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) verstand sich als Erziehungsstaat, der seine Bürger im Sinne der sozialistischen Ideologie formen wollte. Dies betraf auch die intimste Sphäre des Lebens: die Familie. Die Kindererziehung war im DDR-Recht als oberste Elternpflicht verankert, doch wer sich dem System widersetzte oder als „nicht konform“ galt, riskierte das Schlimmste: den staatlich verordneten „Diebstahl der Kindheit“ durch Zwangsadoption. Familien wurden brutal auseinandergerissen, Narben entstanden, die bis heute tief sitzen. Eine dieser erschütternden Geschichten ist die von Katrin Bär, die im zarten Alter von vier Jahren zur Zwangsadoption freigegeben wurde.

Katrin Bär beschreibt ihre Trennung von der leiblichen Mutter als den „Diebstahl ihrer Kindheit“. Im Februar 1972 wurde sie zusammen mit ihrem siebenjährigen Bruder ihrer Mutter in Gera weggenommen. Was als vermeintlich normale Vorladung begann, endete für die Kinder im Heim und für ihre Mutter in staatlicher Willkür. Ihre Mutter, eine Kellnerin und „Schweberin“, stand wegen ihres „nicht-konformen Lebens“ unter Beobachtung – ein Schicksal, das viele Betroffene teilten.

Der „Gummiparagraph“ und die „Asozialen“
Zwangsadoptionen in der DDR betrafen vor allem zwei Gruppen: Familien von „Republikflüchtigen“ und sogenannte „Asoziale“. Kinder wurden systematisch aus politischen Gründen von ihren Eltern getrennt. Die Behörden nutzten oft den berüchtigten Paragraphen 249 des Strafgesetzbuches der DDR, der eine „asoziale Lebensweise“ mit bis zu zwei Jahren Haft bestrafte. Dieser Paragraph wurde wegen seiner willkürlichen Auslegung als „Gummiparagraph“ bekannt. Schon eine harmlos erscheinende Bemerkung konnte ausreichen, um als regimekritisch oder „potenziell republikflüchtig“ eingestuft zu werden. Schätzungsweise 130.000 Menschen fielen diesem Paragraphen zum Opfer. Ihre Kinder landeten in Heimen, bei Verwandten oder wurden zur Adoption freigegeben. In extremen Fällen wurden Müttern sogar heimlich nach der Geburt ihre Babys entzogen.

Von den etwa 70.000 Adoptionen zwischen 1950 und 1991 in der DDR fanden rund 7.000, also etwa neun Prozent, gegen den Willen der leiblichen Eltern statt. Ein Großteil davon waren Zwangsadoptionen – ein Bereich, in dem weiterhin großer Forschungsbedarf besteht, um das ganze Ausmaß des Unrechts zu erfassen.

Katrin Bärs Leidensweg: Vom Heim ins System
Katrin Bärs Odyssee begann nach der Trennung von ihrer Mutter. Kurz bei der Oma, dann ins Heim – und schon bald der erste, gescheiterte Adoptionsversuch. Rückblickend vermutet sie, dass es sich dabei um eine Geschwistertrennung handelte, denn ihr Bruder kam in ein anderes Heim. Als Kind war Katrin überfordert von der Situation: „Ein großes Ohnmachtsgefühl“, niemand erklärte ihr, was geschah.

Fast zwei Jahre verbrachte Katrin im Heim, wo sie als „Kinder-Staatsverräterin“ beschimpft wurde – eine Erfahrung, die zu Mobbing führte und tiefe Spuren hinterließ. Freundschaften suchte sie dort vergebens, viele Erinnerungen hat sie verdrängt.

Nach einem weiteren gescheiterten Adoptionsversuch bei einer Kinderärztin, die „Genossin gewesen sein muss“, kam Katrin schließlich in ihre dritte Adoptivfamilie. Die Adoptivmutter war Lehrerin und SED-Parteisekretärin – „vermeintlich prädestiniert, die wilde Katrin zu zähmen und sie im Sinne des Ministeriums für Volksbildung staatskonform zu erziehen.“ Unter der Leitung von Margot Honecker, die maßgeblich am „Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem“ mitwirkte, sollte die Erziehung der Kinder von klein auf zu „sozialistischen Staatsbürgern“ erfolgen. Trotz späterer Ermittlungen gegen Margot Honecker wegen Zwangsadoptionen konnte sie 1992 unbehelligt nach Chile ausreisen. Das DDR-Recht, das im Einigungsvertrag anerkannt wurde, stufte Zwangsadoptionen nicht als schwere Menschenrechtsverletzungen ein – ein juristisches Detail, das moralisch jedoch zutiefst falsch ist.

Für Katrin Bär stellte die Aufnahme bei den Jungpionieren im Alter von 15 Jahren einen Wendepunkt dar: zum ersten Mal empfand sie ein Gefühl von Zugehörigkeit, nachdem sie im Heim als „Kind der Staatsverräterin“ ausgegrenzt worden war.

Verdrängung, Wiederfindung und der Kampf um Gerechtigkeit
Das Thema Zwangsadoptionen verschwand lange Zeit aus der öffentlichen Wahrnehmung. Mitte der 70er Jahre sorgte der „Spiegel“ zwar mit dem Titel „Kinderrab der DDR“ kurzzeitig für Aufsehen, doch die Bundesregierung sah keinen Verhandlungsspielraum und opferte die Kinderschicksale der „deutschen Entspannungspolitik“.

Erst 1990 stieß eine Clearingstelle in Berlin auf Akten und begann, das Thema neu aufzurollen. Die damalige Leiterin Elke Kannenberg zeigte sich „empört“ über die Schicksale der oft alleinerziehenden Mütter, die aufgrund des Paragraphen 249 verurteilt wurden, weil sie den hohen gesellschaftlichen Anforderungen nicht gerecht werden konnten. Lange Haftstrafen und Kontaktabbrüche waren die Folge – ein „Teufelskreis“.

Katrin Bär heiratete jung, auch um ihrer Adoptivfamilie zu entfliehen. Die Wiedervereinigung nutzte sie zunächst nicht, um nach ihrer leiblichen Mutter zu suchen. Ein „dummer Zufall“ – die Notwendigkeit, aufgrund eines genetischen Problems ihres ungeborenen Sohnes Akten einzusehen – führte sie 20 Jahre später, mit 24 Jahren, zu ihrer leiblichen Mutter zurück. Ein „irrer“, emotionaler Moment, in dem sie sich sogar an den Geruch ihrer Mutter am Hals erinnerte – eine unbewusste, tiefe Verbindung. Doch der Versuch, beide Familien zusammenzubringen, scheiterte dramatisch.

Im Jahr 2007 beantragte Katrin Bär Akteneinsicht. Schwarz auf weiß stand dort das Unrecht: Ihrer Mutter wurde das Erziehungsrecht entzogen, obwohl sie der Adoption nie zugestimmt hatte. Kontakte zur Oma sollten „komplett gekappt“ werden. Ihre Mutter verbrachte insgesamt sieben Jahre zu Unrecht in DDR-Gefängnissen und ist heute strafrechtlich rehabilitiert. Als Katrin dies las, rief sie ihre Mutter an und entschuldigte sich – für das, was ihrer Mutter und ihr angetan worden war.

Aus Wut und dem Gefühl, dass „alles, was mir anerzogen worden ist, eine Lüge“ war, beschloss Katrin Bär, ihr Schicksal öffentlich zu machen. Sie engagiert sich heute, um anderen Betroffenen von Zwangsadoptionen zu helfen. Sie hat ein Online-„Schwarzes Brett“ und eine Anlaufstelle in der ehemaligen Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg eingerichtet. Dort sind über 320 Fälle registriert, und dank des Netzwerks konnten bereits in fast 550 Fällen Suchen erfolgreich abgeschlossen werden.

Die Arbeit ist jedoch langwierig und komplex. Das Wiederfinden ist oft nur der erste Schritt; die über Jahrzehnte zerstörten Lebenswege der Kinder und leiblichen Eltern erschweren die Zusammenführung. Neben den emotionalen Problemen bestehen rechtliche Hürden: Es gibt keine Aufklärungspflicht über Adoptionen, und leibliche Eltern dürfen aufgrund eines „Ausforschungs-Offenbarungsverbots“ nicht aktiv suchen. Akten sind oft erst nach 60 Jahren einsehbar, wenn die leiblichen Eltern möglicherweise bereits verstorben sind.

Katrin Bär und ihre Mitstreiter fordern eine Änderung dieser Gesetze, die Rehabilitierung der betroffenen Eltern und eine umfassende wissenschaftliche und historische Aufarbeitung der Zwangsadoptionen in der DDR. Trotz der immensen Herausforderungen hat Katrin Bär ihr Schicksal akzeptiert und ist daran gewachsen. Ihre Mission ist es, aufzuklären und vielen Menschen zu helfen, die dasselbe Unrecht erfahren haben.