Das Zugunglück von Trebbin 1962 – Ein DDR-Geheimnis wird enthüllt

Jahrelang schlummerte in den Archiven von Jüterbog ein dunkles Geheimnis. Eine Geschichte, über die niemand sprechen sollte. Es ist die Geschichte eines verheerenden Zugunglücks, das sich am 1. März 1962 in der Nähe von Trebbin ereignete und die DDR-Bevölkerung nie erfahren sollte. Erst jetzt, über 60 Jahre später, wird im MDR-Fernsehen erstmals über diese Katastrophe berichtet.

Kalter Krieg und militärische Präsenz
Die Tragödie ereignete sich zur Hochzeit des Kalten Krieges, einer Zeit, in der die sowjetische Armee eine immense militärische Präsenz in der DDR unterhielt. Die Region um Jüterbog galt als das Gebiet mit der größten Militärkonzentration in ganz Deutschland. Tausende sowjetische Soldaten und Kriegsgerät waren hier stationiert, um im Ernstfall, etwa für eine Besetzung West-Berlins, bereit zu sein.

Offiziell galten sie als Freunde der DDR, doch die ostdeutsche Bevölkerung empfand sie oft als rigoros auftretende Besatzungstruppe, die mit Verkehrsbehinderungen, Kriminalität und allgemeinem Stress verbunden war.

Im Frühjahr 1962 fand ein großes Manöver statt, an dem über 40.000 Sowjetsoldaten teilnahmen. Am 1. März befand sich ein Panzerbataillon des 248. Schützenregiments auf dem Rückweg in seine Kaserne bei Potsdam. Die Panzer wurden auf einen Sonderzug verladen, während die russischen Soldaten in Holzwaggons im Stehen reisen mussten.

Die Katastrophe nimmt ihren Lauf
Am frühen Abend, gegen 19 Uhr, war die Katastrophe nicht mehr aufzuhalten. Ein vollbesetzter Schnellzug der Deutschen Reichsbahn, auf dem Weg von Berlin nach Leipzig, raste mit 120 Kilometern pro Stunde durch die Nacht. Der sowjetische Sonderzug mit Dampflok, beladen mit 300 Soldaten und 30 T-55 Panzern, fuhr nur halb so schnell. Das Unglück geschah, weil einer der auf dem Güterzug verladenen Panzer seinen Turm in Richtung des entgegenkommenden Zuges gedreht hatte.

Das Kanonenrohr des Panzers schlitzte die Seite des Schnellzuges auf, tötete einen Passagier sofort, der gerade auf dem Gang eine Zigarette rauchte, und verletzte weitere. Die Insassen des Schnellzuges bemerkten lediglich einen Knall und das Verschwinden des Mannes. Weitaus schlimmer traf es die Soldaten im sowjetischen Zug. Der Aufprall des Kanonenrohrs auf den Panzer führte dazu, dass dieser rückwärts vom Güterwagen kippte und genau in die Lücke zwischen seinem Wagen und dem folgenden fiel. Die Kupplung riss ab, und alle anderen Wagen schoben sich auf diesen Panzer zu, bildeten einen Trümmerberg, der von Feuerwehrleuten später auf 10 bis 15 Meter Höhe geschätzt wurde.

Retter kämpfen in der Dunkelheit und gegen Widerstände
In Trebbin bereitete man sich gerade auf den Feierabend vor, als die Nachricht vom schweren Unglück über das Telefon kam. Otto Schneedecke, damals 30 Jahre alt und Mitglied der Trebbiner Feuerwehr, erinnert sich noch heute an diese Nacht. Das größte Problem für die eintreffenden Retter war die absolute Dunkelheit, da nur Pechfackeln zur Beleuchtung zur Verfügung standen. Hinzu kam ein weiteres Hindernis: Russische Aufpasser wollten die deutschen Retter zunächst nicht an die Unglücksstelle lassen. Erst nachdem die Deutschen hörten, wie Verwundete schrien und um Hilfe riefen, und sie darauf bestanden, helfen zu dürfen, wurden sie beiseite genommen und durften weiterfahren.

Der Anblick vor Ort war furchtbar. Panzer hatten die Waggons zerdrückt, es war ein einziges Chaos. Eine der wenigen positiven Nachrichten war, dass der Schnellzug nicht entgleist war. Doch die sowjetischen Soldaten hatten es schlimm getroffen. Viele waren in den Radachsen und Holzverschlägen eingeklemmt. Immer mehr tote Soldaten wurden entdeckt. Der 17-jährige Dieter Reichardt, der damals bei seinem ersten Einsatz war, stand wie viele erfahrene Feuerwehrleute vor der größten Herausforderung seines Lebens. Die Retter zogen immer wieder Soldaten aus den Trümmern, auch wenn sie bereits tot waren.

Lazarett der Verzweiflung: Krankenhäuser am Limit
Verletzten konnte nur der schnelle Transport in ein Krankenhaus helfen. Doch es gab viel zu viele Verletzte und viel zu wenige Rettungswagen. Alles, was an Fahrzeugen zu mobilisieren war, wurde requiriert. Vorbeifahrende Autos wurden angehalten und ihre Fahrer gebeten, Verletzte ins Krankenhaus zu bringen. Dies war für viele die einzige Chance auf schnelle ärztliche Hilfe, da schon der posttraumatische Schock lebensgefährlich sein konnte. Die meisten Apathischen Soldaten wurden in die Kliniken des Umlandes, besonders nach Luckenwalde, gebracht.

Im Klinikum Luckenwalde war Ursula Köhler eine von 30 Schwesternschülerinnen. Es war ein Glücksumstand für die Soldaten, dass die jungen Frauen in ihrer zweijährigen Ausbildung durch verpflichtende Katastrophenübungen in den Ferien auf schwerste Fälle vorbereitet worden waren. Sie übten das Suchen und Erstversorgen von Verwundeten, das Bergen und das Einrichten von Sanitätslagern.

Der Katastrophenfall trat am 1. März 1962 ein. Laufend kamen Fahrzeuge mit Verwundeten an. Ein Arzt sortierte die Patienten, je nachdem, ob sie sofort operiert werden mussten oder Zeit hatten. Ungefähr 70 Verletzte mussten versorgt werden, wofür keine Betten vorhanden waren. Die jungen Soldaten, viele um die 20 Jahre alt, lagen auf Matratzen auf dem Flur. Die Schwestern beschrieben die Zustände später als „nach einer Schlacht im Krieg“. Ein weiterer glücklicher Umstand war, dass viele Ärzte wegen einer Konferenz vor Ort waren und fast rund um die Uhr operieren konnten.

Sowjetische Einmischung und das Schweigen danach
Doch dann geschah etwas Unerwartetes: Sowjetische Offiziere kamen und holten die frisch operierten Soldaten einfach ab. Sie stellten Chefarzt Dr. Dietrich vor vollendete Tatsachen. Der Chirurg erlitt einen „energischen Tobsuchtsanfall“ und forderte, dass die noch zu operierenden Soldaten bleiben. Ursula Köhler und die anderen Schwesternschülerinnen sollten aufpassen und den Chefarzt alarmieren, falls die Offiziere zurückkämen. Die jungen Frauen waren gleichzeitig Aufpasserinnen, Pflegerinnen und Seelsorgerinnen. Fünf Schülerinnen saßen Wache am Bett jedes Soldaten, dokumentierten und versuchten, sich mit ihren spärlichen Russischkenntnissen zu verständigen. Besonders in Erinnerung blieb Ursula Köhler ein junger Soldat, der seinen rechten Arm verloren hatte und immer um Bleistift und Papier bat, um mit links an Mutter und Mädchen zu schreiben.

Das Unglück, die Erlebnisse und die wohl über 100 Toten durften zu DDR-Zeiten nicht angesprochen werden. Das sowjetische Regime wollte das Geheimnis wahren. Die plausible Erklärung für das Unglück kam erst vor Kurzem von einem Mann, der im Oberkommando der Sowjetarmee in Wünsdorf tätig war: Soldaten sollen während der Fahrt mit der Panzerkanone „Übung“ gemacht haben, indem sie mit dem Rohr Häusern oder Autos am Straßenrand folgten. Dabei sollen sie den Überblick verloren und nicht bemerkt haben, dass sich ein Zug mit hoher Geschwindigkeit näherte, was zur Kollision führte.

Die Narben der Erinnerung
Die sowjetischen Streitkräfte haben Deutschland 1994 endgültig verlassen, womit die fast 50-jährige Stationierung auf deutschem Boden Geschichte ist. Doch die Ruinen ihrer Baracken bleiben, und vor allem die Retter von damals haben die Schicksalsnacht nie vergessen. Für viele war es ein „schlimmer Schrecken“, der immer wieder zurückkehrt und Alpträume verursacht. Der Einsatz war für viele Feuerwehrleute der schlimmste in ihrer gesamten Tätigkeit. Die Erinnerung an diese verborgene Tragödie beschäftigt sie bis heute.