Im Jahr 1990 begaben sich Reisende auf eine viereinhalbwöchige Zugreise durch die Deutsche Demokratische Republik, die als eine Reihe von „Momentaufnahmen von Land und Leuten“ konzipiert war, subjektiv und persönlich, wobei der Zufall die Stationen bestimmen sollte. Ziel war es, Geschichten am Wegesrand, Begegnungen und Bilder abseits der Magistralen einzufangen, um festzuhalten, „was bald schon verloren sein könnte“. Die Reise führte von Zittau bis nach Rügen, mit Bautzen als erster Zwischenstation in der ersten Woche.
Die „Eisenbahnromantik“ begann in Zittau, wo der Charme eines alten Holzbahnhofs mit klappernden Fenstern und dem Geruch von Schmieröl und Borhwai verzauberte, auch wenn der Fahrdienstleiter Alfred Huss sich modernere Anlagen gewünscht hätte. Die Fahrt führte zunächst entlang der alten Fernstraße 96, vorbei an Handwerksbetrieben, wo Preise noch gestützt waren und Brot billiger als Futtergetreide.
Wunden der Braunkohle und ein Geisterdorf
Die Reise enthüllte schnell die „Wunden“ des Landes, die durch den Braunkohle-Tagebau gerissen wurden. Das Haus von Rut Schucka stand kurz vor der Zerstörung, ihre Nachbarn waren bereits 1988 umgezogen. Sie weigerte sich jedoch, ihre Heimat zu verlassen, trotz fehlender sanitärer Anlagen und der Anweisung, sich einen Wassereimer hinzustellen. Die Bewohner des „Geisterdorfs“ am Rande der Grube saßen im Winter ohne Licht da und hatten eingeschlagene Scheiben, ohne dass jemand die Reparatur übernahm. Die Gegend roch streng nach Schwefel, und die Menschen dachten über „Vertreibung“ und „Ungerechtigkeit“ nach. Obwohl feststand, dass der Tagebau eingestellt wird, verfielen die Häuser weiter.
Bautzen: Gefängnis, Protest und Währungsunion
In Bautzen, einer Stadt mit zwei Sprachen und zwei Gesichtern, wurde die nationale Minderheit der Sorben sichtbar anerkannt. Doch der Name der Stadt war untrennbar mit ihrem „hässlichen Gesicht“ verbunden – dem berüchtigten Gefängnis, das der Volksmund als „gelbes Elend“ bezeichnete. Viele Bautzener, wie die Eisenbahnerin Brigitte Thomas, empfanden es als beschämend, dass die Stadt dadurch berühmt geworden war, obwohl sie eine tausendjährige Geschichte und viele schöne alte Bauten besaß.
Im Bautzener Gefängnis saßen Menschen aus politischen Gründen unter unmenschlichen Bedingungen, Tausende starben an Hunger und Seuchen und wurden unkenntlich verscharrt. Dieter Müller, selbst Häftling von 1948 bis 1954, sprach vom „Elendslager“ und hatte den Stadtplan für sich vervollständigt, um die weißen Flecken der Gefängnisse sichtbar zu machen und das Vergessen zu bekämpfen. Im Jahr 1990 befanden sich noch 250 Gefangene in der Anstalt, bewacht von Personal, das auch schon zu Stasi-Zeiten dort tätig war und nach Ansicht der Gefangenen „nur ihre Pflicht getan“ hatte. Die Gefangenen, deren Sprecher Peter Dombrowski war, kritisierten das Fehlen wirklicher Reformen und das Fortbestehen des alten Geistes. Sie streikten bereits mehrfach und erreichten kleine Verbesserungen wie das Aufhängen von Bildern und das Begrüßen von Besuchern mit Handschlag. Die Anstaltsleitung hingegen sorgte sich um Sauberkeit und Höflichkeit, während der Pfarrer Burkard Schulz, selbst ein kritischer Kopf, den „alten stalinistischen Geist“ im Gefängnis kritisierte.
In Bautzen waren auch die „Vorboten der Währungsunion“ spürbar. Osthändler verkauften gegen Westmark, Westhändler gegen Ostmark. Im Hotel „Zum Weißen Ross“ wurden Textilien aus Westdeutschland angeboten, die zwar teuer waren – fast ein Monatsgehalt für ein Kostüm und einen Pullover, wenn man von den damals üblichen knapp 700 Mark Gehalt ausging –, aber dennoch begehrt.
Spreewald, Grenzen und Nachdenklichkeit
Die Reise führte weiter nach Bad Muskau, an die Grenze zu Polen, die offiziell „Friedensgrenze“ hieß, doch ein Stachelband quer über die Gleise zeigte, dass der Weg zur „wirklich freien Fahrt“ noch weit war. Im Spreewald, wo der Fährmann Robby in dritter Generation Touristen beförderte, gab es trotz allem noch reichlich Fische, auch wenn die Quappe ausgestorben war. Die Kinder erkannten früh, dass die Zukunft im Dienstleistungsbereich lag, und Touristen brachten mit ihren Spenden und der Nachfrage nach Kahnfahrten Wohlstand in die Dörfer. Sorbische Trachten wurden nur noch zu besonderen Anlässen oder für Touristen getragen.
Am Zusammenfluss von Oder und Neiße in Ratzdorf war die Grenze spürbar, ein Ort, der zum Nachdenken über Politik anregte, da er so friedlich wirkte, im Gegensatz zur Rhetorik mancher „Berufsvertriebener“. Frauen aus dem Dorf kümmerten sich dort um die Kriegsgräber, die sonst niemand mehr pflegte.
Frankfurt (Oder): Alltag an der Grenze
Frankfurt (Oder) hinterließ einen bleibenden Eindruck als Grenzstadt. Kontrollen an der „Friedensgrenze“ dauerten 40 Minuten. Der Alltag der Volkspolizei unter Hauptkommissar Gerhard Ransk umfasste auch die Aufnahme eines 15-jährigen, der seinen Frust mit Steinen ausgelassen hatte, und die Lösung von Alltagsproblemen wie zerbrochenen Fenstern. Ein unerwarteter Anruf aus Frankfurt am Main führte zu einem Austausch über die „operative Lage“ der Polizei in Ost- und Westdeutschland. Das Nachtleben der Stadt, das von einer Künstleragentur einmal wöchentlich mit Unterhaltung bedient wurde, erinnerte an ein „Moulin Rouge für Arme“, wo Patrizia sich seit sechs Jahren vor Publikum auszog.
Wünsche für die Zukunft und die Herausforderungen des Wandels
In Niederfinow, am gigantischen Schiffshebewerk, traf man auf Hann-Lore Tiele, die als Verkäuferin arbeitete. Sie wünschte sich Gesundheit, Schaffenskraft und dass alle Deutschen in fünf Jahren den gleichen Lebensstandard hätten. Sie betonte die Fähigkeiten der Handwerker im Osten, die Ersatzteile selbst anfertigen mussten. Ihr dritter Wunsch war eine Reise, da sie nur die Republik kannte. Politisch wünschte sie sich ein „richtiges Deutschland“, das aber „ein besseres“ sei, von dem keine „dunklen Machenschaften“ ausgingen. Sie berichtete von einer Begegnung mit einem polnischen Kunden, der sie „Faschistenschwein“ nannte, und wünschte sich, dass die Deutschen nicht mehr so angesehen würden.
Im kleinen Pasewalk zeugte der gemischtwarenladen Schilling von einer langen Familientradition und blieb trotz 40 Jahren Sozialismus ein Privatunternehmen. Die Seniorchefin Gerda Schilling war bekannt dafür, den Kunden auch mal die Meinung zu sagen. Der Juniorchef träumte davon, dass das Geschäft „plötzlich alles voll mit Ware“ sei und die Kunden „rennen“ würden. Das Geschäft stellte sich mit erweitertem Sortiment und doppelter Kasse auf Ost- und Westmark auf die neue Zeit ein.
Die Zugfahrt nördlich von Neubrandenburg zeigte ein veraltetes Schienennetz, das der Lokführer Eberhard Hebeck als „heruntergekommen“ beschrieb. Die Menschen waren verunsichert durch die Entwicklung in Wirtschaft und Politik. Die Stimmung in den Betrieben war nicht gut, und viele hofften, ihren Arbeitsplatz behalten zu können. Die Schaffnerin im Gepäckwagen war traurig, weil ihr Freund zur Bundesbahn übergemacht hatte. Es gab auch nachdenkliche Stimmen, die die Schnelligkeit der Wiedervereinigung kritisierten: „Mit dieser Schnelligkeit nach meiner Auffassung sich ich doch eine Reihe von Dingen einschleichen die für uns als Bevölkerung in der DDR nicht gut sind“.
Rügen: Von Kreidefelsen bis zum Fischeralltag
Auf Rügen, dem Ziel der Reise, beeindruckten die weltberühmten Kreidefelsen im Norden und die morbide Eleganz alter Seebäder im Süden. In Vitt, einem kleinen Fischerdorf, vermieteten Fischer ihre reetgedeckten Karten an Touristen als einträglichen Nebenerwerb. Doch die Fischer, wie Joben Lass und Köppke, die einst „Gold“ verdienten und zu den reichsten Leuten auf der Insel zählten, standen vor neuen Problemen. Der Hering war schwer verkäuflich und wurde häufig zu Fischmehl verarbeitet, was weniger Geld einbrachte. Die Unsicherheit über Preise und die Gewohnheit, auf Anweisungen „von oben“ zu warten, erschwerte die Umstellung auf Selbstvermarktung.
Die Reise endete, wie sie in Zittau begonnen hatte: mit Dampf, genauer gesagt, mit dem „Rasenden Roland“ auf der Schmalspurbahn. Die Bahnfahrt von Zittau nach Rügen war für die Reisenden wie eine „Reise in die eigene Kindheit“, die Erinnerungen und Momentaufnahmen von einem Land hinterließ, das sich im Wandel befand. Viele Dinge in der DDR galten als schön und im Westen nicht mehr vorhanden. Das Reisetagebuch der Reisenden enthielt Gedanken über „Heimat“ und „Identität“ und die Irritation über die Arroganz, mit der viele Bundesbürger das Land in Besitz nahmen.