In einer bemerkenswerten Buchvorstellung in Berlin präsentierte Egon Krenz, einst Staatsratsvorsitzender der DDR, seinen dritten Memoirenband mit dem Titel „Verlust und Erwartung“. Das Gespräch, moderiert von Holger Friedrich, dem Verleger der Berliner Zeitung, versprach von Anfang an mehr als ein herkömmliches Interview zu sein: Es sollte ein „Gespräch zwischen einem leidenschaftlichen Zeitungsmann und einem leidenschaftlichen Sozialisten“ werden. Diese ungewöhnliche Begegnung bot tiefe Einblicke in Krenz’ persönliche Reflexionen und die komplexen Entscheidungsprozesse am Ende der DDR.
Die persönliche Perspektive des Egon Krenz
Für Egon Krenz sind seine Memoiren, darunter die Bände „Aufbruch und Aufstieg“ und „Gestaltung und Veränderung“, vor allem seine Biografie. Er betont, dass die DDR „viele Facetten“ hatte und dass er sich entschieden hat, seine Erfahrungen nicht dem „Verludern“ zu überlassen. Krenz, 1937 in Kolberg geboren und somit ein Kriegskind, hat Hunger und die Zerstörung seiner Heimatstadt erlebt. Das zentrale Wort seines Lebens und seiner Bücher sei „Frieden“. Er erinnert an ein Treffen zwischen Erich Honecker und Helmut Kohl 1985 in Moskau, bei dem beide Seiten schworen: „Von deutschem Boden darf nie wieder ein Krieg ausgehen.“ Krenz äußert die Sorge, dass dieses Erbe heute in Gefahr sei, insbesondere angesichts der aktuellen deutschen Rüstungspolitik und der Debatten um Waffenlieferungen, die Deutschland in einen Krieg gegen Russland ziehen könnten. Er sieht darin das Gegenteil dessen, was die Bürger der DDR im Herbst 1989 einforderten, als die NVA sogar reduziert wurde.
Die Mauer und die Last der Entscheidungen
Ein zentraler, emotionaler und historisch belasteter Punkt der Diskussion war die Gewalt an der innerdeutschen Grenze. Holger Friedrich konfrontierte Krenz mit dem Tod von Chris Gueffroy im Februar 1989 und Krenz‘ Verantwortung für die Sicherheit als Politbüromitglied. Krenz bedauerte jeden Todesfall an der Grenze und erklärte, sich dafür „vor Gericht entschuldigt“ zu haben. Er beleuchtete die historischen und geopolitischen Hintergründe der Grenze, die als „Systemgrenze“, „militärische Grenze“ zwischen Warschauer Pakt und NATO sowie als „Staatsgrenze“ zwischen DDR und BRD fungierte. Er widersprach der westlichen Propaganda, dass die DDR-Führung sich über Tote gefreut hätte. Nach Gueffroys Tod sei im Politbüro festgelegt worden: „Es wird an der Grenze nicht mehr geschossen“, was auch im Urteil über ihn enthalten sei und seitdem zu keinem weiteren Todesfall führte.
Krenz räumte ein, dass die Frage der Reisefreiheit 1989 eine der Hauptfragen war und dass man sie hätte früher lösen sollen. Er erklärte die damalige Sichtweise, dass die Reisefreiheit auch eine Frage der Ökonomie war, da Reisende von Verwandten oder dem BRD-Staat abhängig wurden. Ein weiteres Problem war die Nicht-Respektierung der DDR-Staatsbürgerschaft durch die Bundesrepublik, was die Entscheidungen der DDR-Führung erschwerte.
Emanzipation und die Wende von 1989
Trotz der starken Abhängigkeit von der Sowjetunion gab es Momente der Emanzipation. Krenz erinnerte an Honeckers öffentlichen Widerstand gegen die Stationierung von Raketen auf deutschem Boden, was zu einer Auseinandersetzung mit der sowjetischen Führung, insbesondere mit Gorbatschow, führte. Obwohl Honecker dies ohne Gorbatschows Zustimmung tat, sieht Krenz es im Nachhinein als Fehler an.
Holger Friedrich beschrieb die offensichtliche Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung der Bevölkerung und der Reaktion der politischen Führung im Sommer 1989. Krenz bestätigte, dass das Politbüro – insbesondere er selbst, Siegfried Lorenz, Bernhard Felfe, Gerhard Schürer und Harry Tisch – diskutierte, dass Honecker nach 18 Jahren an der Spitze abgelöst werden müsste. Krenz‘ eigene Illusion war es, Honecker dazu zu bewegen, die notwendigen Fragen selbst zu stellen, doch dieser lehnte Reformen ab und legte Vorschläge von Krenz in den Panzerschrank.
Ein Wendepunkt war der 7. Oktober 1989, der 40. Jahrestag der DDR, an dem es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten kam. Krenz berichtete von einer Beratung am 8. Oktober mit allen Verantwortlichen für die Sicherheit der DDR, bei der er eine sechsseitige Erklärung zur politischen Lage verlas. Der letzte Satz: „Politische Probleme müssen politisch gelöst werden, es darf keine Gewalt geben“. Die Generäle, die für die Sicherheit der DDR zuständig waren, hätten daraufhin Beifall geklatscht. Krenz betonte, dass seit dem 8. Oktober keine gewaltsamen Zusammenstöße mehr zwischen Demonstranten und Staatsmacht in der DDR stattfanden. Er führte diese kollektive Bereitschaft, nicht in die Konfrontation zu gehen, auf die „humanistische Erziehung“ in der DDR-Schule zurück. Holger Friedrich lobte dies als „zivilisatorische Großtat“.
Die Zeit nach der Wende: Persönliche Bilanz und Appell zur Versöhnung
Nach seinem Rücktritt Anfang Dezember 1989 und der Machtübergabe an Hans Modrow und später Lothar de Maizière, sah sich Krenz mit Hausdurchsuchungen, Enteignungen und Gerichtsprozessen konfrontiert. Er wurde zu 6,5 Jahren Haft verurteilt und saß vier Jahre. Er kritisierte das rückwirkende Gesetz, das im wiedervereinigten Deutschland angewandt wurde, und die Zeugenaussagen im Honecker-Prozess, die seiner Meinung nach nicht die tatsächliche Situation des sowjetischen Einflusses auf das Grenzregime widerspiegelten.
Krenz beschrieb den Moment der Vereinigung der beiden deutschen Staaten als den Verlust seines Vaterlandes, der ihm die Tränen in die Augen trieb. Dennoch sah er darin auch etwas Großes: die Beseitigung der Möglichkeit, dass zwei deutsche Staaten Krieg gegeneinander führen könnten. Er zeigte sich erstaunlich gelassen im Rückblick auf die ihm zugefügten Ungerechtigkeiten, was Holger Friedrich tief beeindruckte.
Holger Friedrich lenkte die Diskussion auch auf die „Ausgrenzung der ostdeutschen Eliten“ nach der Wende, die nicht ausreichend aufgearbeitet worden sei. Er sprach von tragischen Schicksalen, darunter Bilanz-Suizide von Menschen, die ihre Arbeit verloren hatten oder sozial ausgegrenzt wurden. Krenz bekräftigte, dass es an der Zeit sei, dass sich die „altbundesdeutsche Elite“ bei den Ostdeutschen entschuldigt. Sein größter Wunsch ist, dass seine Kinder, Enkel und Urenkel den Frieden erleben und „nie wieder einen Krieg haben“.
Das Gespräch zwischen Egon Krenz und Holger Friedrich bot somit nicht nur einen Einblick in die Vergangenheit, sondern auch eine Mahnung für die Gegenwart, die Mechanismen von Macht und Propaganda kritisch zu hinterfragen und die Lehren aus der deutschen Geschichte zu ziehen, um eine friedliche Zukunft zu gestalten.