Die Debatte um die deutsche Wiedervereinigung und die Erfahrungen der Ostdeutschen bleibt auch Jahrzehnte später ein emotionales und oft polarisierendes Thema. Wilhelm Domke-Schulz ist eine Stimme, die diese Polarisierung exemplarisch aufzeigt: Seine Äußerungen werden von einigen als mutige Offenheit gefeiert („endlich sagt’s mal einer“), während andere darin „Hass auf den Westen“ erkennen. Seine Perspektive bietet einen unverblümten Einblick in die Sichtweise eines „Ossis“ auf die Nachwendezeit und die Geschichte Deutschlands.
Der Groll auf den Westen und die Dominanz der westdeutschen Erzählung
Domke-Schulz äußert sich deutlich ablehnend gegenüber dem Westen, er findet „nicht so viel, was ich leiden könnte“. Selbst landschaftliche Schönheit wie Weinregionen im Westen wird nur unter dem Vorbehalt erwähnt, dass der Wein nichts dafür kann, dort zu wachsen. Ein zentraler Kritikpunkt ist für ihn die vorherrschende Geschichtsdarstellung: Diese sei „immer eine Westdeutsche“.
Die Friedensbewegung im Osten: Staatliche Lenkung versus kirchlicher Widerstand
Entgegen mancher vereinfachter Darstellung betont Domke-Schulz die Existenz und Vielfalt der Friedensbewegung in der DDR, insbesondere zur Zeit der Stationierung amerikanischer Raketen. Er unterscheidet hierbei klar zwischen zwei Strömungen:
• Staatlich gelenkte Aktionen: Die FDJ organisierte „große Aktionen“ wie „Single Clubs“, Gitarrenkonzerte und die Verbreitung von Aufklebern mit durchgestrichenen Raketen, die sich gegen den NATO-Doppelraketenbeschluss richteten. Diese Bewegung war „Anti-NATO USA“ orientiert und sah die USA als Aggressor, dessen Raketen „uns und unsere Freunde und in der Sowjetunion bedrohen“. Dieser Haltung lag auch die Erinnerung an den Vietnamkrieg zugrunde.
• Unabhängige kirchliche Bewegung: Parallel dazu entwickelte sich eine Bewegung unter dem Begriff „Schwerter zu Pflugscharen“, die von Wittenberg ausging und über die Kirche, insbesondere durch Friedrich Schorlemmer, getragen wurde. Diese Antikriegs- und Abrüstungsbewegung war nicht staatlich gelenkt und gefördert, sondern entstand unabhängig und wurde durch symbolische Akte, wie das Umschmieden eines Schwertes zu einem Pflug im Schlosshof von Wittenberg, bekannt.
Der 3. Oktober: Ein Tag der Ablehnung und Enttäuschung
Für Wilhelm Domke-Schulz ist der 3. Oktober, der Tag der Deutschen Einheit, ein Tag, den er meidet. Er kann die von ihm beschriebene Peinlichkeit nachvollziehen, die auch Westdeutsche empfinden, wenn Politiker versuchen, den Ostdeutschen „Dankbarkeit abzuringen“. Für ihn selbst stellt sich die Frage nach dem Grund für diese Dankbarkeit: „Wofür soll ich da jetzt bitte dankbar sein?“. Er listet eine Reihe von Missständen auf, die für ihn eng mit der Wiedervereinigung verbunden sind:
• Arbeitslosigkeit.
• Wirtschaftsvernichtung.
• Nichtanerkennung von Berufsabschlüssen.
• Nichtzulassung zu Führungspositionen.
Besonders kritisch äußert er sich über die Ankunft sogenannter „Westbesatzer“ im Osten. Nach seiner Wahrnehmung waren dies oft Personen, von denen der Westen „froh war, dass er die Typen los war“. Wenn diese dann „freudestrahlend“ auf ihn zukämen und ihm gratulierten: „Endlich kannst du frei deine Meinung äußern“, empfindet er dies als Ironie und zynischen Hohn. Für Domke-Schulz war die Wiedervereinigung ein Prozess, der seit 1952 vorbereitet wurde, um seine Heimat „zu plündern bis auf den letzten Besenstiel“.
Veranstaltungen zum 3. Oktober, bei denen ein „Beutewessi“ als Veranstalter und Redner auftritt und andere Westdeutsche in Führungspositionen sich selbst beweiräuchern, während die anwesenden „Ossis“ nur klatschen sollen, sind für ihn kein Anlass zur Freude oder zum Feiern. Seine Aussagen spiegeln eine tiefe Enttäuschung und das Gefühl wider, dass die Wiedervereinigung für viele Ostdeutsche mit gravierenden Verlusten und mangelnder Anerkennung einherging.