Die deutsche Wiedervereinigung stellte viele Betriebe in Ostdeutschland vor existenzielle Herausforderungen. Einer von ihnen war die Mathias-Thesen-Werft (MTW) in Wismar. Oswald Müller, geboren 1935 in Zinnowitz, führte die Werft mit ihren rund 6.000 Beschäftigten als Direktor bereits seit Ende der 1970er Jahre durch schwierige Zeiten. Die Transformation nach 1990, die Ära der Treuhandanstalt und die Insolvenz der Bremer Vulkan AG prägten seine letzte Dekade an der Spitze des Unternehmens bis zu seinem Ruhestand 2002. Müller ist einer von 21 Unternehmerinnen und Unternehmern, deren Erfahrungen in einer Interviewreihe dokumentiert wurden, die Einblicke in den unternehmerischen Alltag und die Bewältigung wirtschaftlicher und persönlicher Herausforderungen in dieser Zeit geben.
Mit der Öffnung der Grenzen sahen sich die ostdeutschen Betriebe plötzlich mit der Marktwirtschaft konfrontiert. Müller erinnert sich an die sofortige Notwendigkeit der Einhegung. Seine Frau fragte, wieso, er sei doch Reisekader gewesen. Doch die „Westmarkt“ kam, und die Bedürfnisse, die geweckt wurden, konnten nicht einfach befriedigt werden. Müller musste sofort handeln, um den Betrieb auf den neuen Kurs zu bringen. Er berief eine erweiterte Leitungssitzung ein und gab die Devise aus: „Unsere Aufgabe besteht darin, alle aus ein Auswirkungen auf die Welt fernzuhalten, wir sind ein autonomes autonomisches Unternehmen unsere Aufgabe besteht darin fleißig weiter zu arbeiten“. Das oberste Ziel war, das Vertrauensverhältnis zu den westlichen Geschäftspartnern aufrechtzuerhalten. Müller hatte zu dieser Zeit noch 17 Verträge, davon 15 mit westlichen Kunden (Hamburg, Oslo, Niederlande) und zwei mit der UdSSR. Er reiste sofort, um diese Partner zu treffen und den Eindruck zu vermitteln, dass die Verträge eingehalten würden. Tatsächlich wurden alle Schiffe, die damals unter Vertrag waren, zum Termin abgeliefert.
Die Werft stand zusammen, vom Leitungsmanagement bis zur Belegschaft. Allerdings war die wirtschaftliche Lage nicht rosig; für Investitionen gab es keine Möglichkeiten. Müller beschreibt es so: „wir wir exportieren Produktivität“. Einfache Dinge wie ein Gabelstapler oder ein Kran waren nicht verfügbar. Investitionen wurden erst möglich, als eine Fährverbindung zur UdSSR aufgebaut und dafür Fähren gebaut wurden, was wiederum Investitionen erforderte.
Im April 1990 gründete Müller mit drei weiteren Mitarbeitern den Arbeitgeberverband Metall und Elektroindustrie Mecklenburg-Vorpommern. Bei den ersten Tarifgesprächen im Mai war das Hauptthema schnell klar. Der damalige IG Metallchef Teichmüller stellte fest: „es gibt keine Werfte in Deutschland mit 6000 beschäftigten… das stehen sie nicht durch“. Das Hauptthema der Tarifverhandlungen war der sozialverträgliche Personalabbau. Ein weiteres wichtiges Thema war die Struktur der Werft: Schiffsneubau, Schiffsreparatur, Konsumgüterproduktion. Die Reparatur musste eingestellt werden, da die SU (UdSSR) keine Reparaturschiffe mehr abnahm. Müller stoppte auch den Baubeginn von Nachfolgeaufträgen und einer sechsten Fähre für die UdSSR. Zur Kompensation dieser Strukturänderungen gelang es ihm im Februar 1990, noch zwei Schiffe per Handschlag nachzuordern, vorbei am Schiffskommerz.
Mit der Treuhandanstalt (Treuhand) hatte Müller nur wenig direkten Kontakt; sie kam kaum auf die Werft. Die Privatisierung begann erst im zweiten Halbjahr 1990 mit der Philosophie: „erst privatisieren und dann investieren“. Es gab Stimmen im Westen, die meinten, man könne die DDR-Werften liquidieren. Doch die politische Meinung, insbesondere von Bundeskanzler Kohl, war, dass die Menschen die Werften brauchten, auch wenn der europäische Schiffbau sie nicht unbedingt erforderte. Dies alarmierte die Wettbewerbskommission in Brüssel, die eine Wettbewerbsverzerrung befürchtete, da die Ostwerften nicht modern und wettbewerbsfähig waren und Investitionen benötigten, was ihnen einen Vorsprung gegenüber Westwerften verschaffen könnte. Die Auflagen für die Ostwerften beinhalteten jährliche Kontrollen zur Einhaltung der Limite durch die Wettbewerbskommission.
Bewerber für die MTW gab es, unter anderem den Kværner Konzern aus Norwegen. Dessen Vertreter, Otto Höberg, zeigte Interesse, wurde aber von der Treuhand darauf hingewiesen, dass der Bremer Vulkan größere Chancen habe. Die größeren Chancen lagen auch in der Person von Teichmüller, dem IG Metallchef, der stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender im Bremer Vulkan Konzern war und Müllers Verhandlungspartner in Tariffragen. Der Bremer Vulkan wurde zum Gesprächspartner. Müller wurde vom Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Maschine und Schiffbau (DMS), in die das ehemalige Kombinat Schiffbau umgewandelt worden war, beauftragt, die Gespräche mit dem Konzernchef des Bremer Vulkan, Hennemann, zu führen.
Geplant war, dass der Bremer Vulkan den gesamten Schiffbau übernehmen und das Management stellen würde. Doch es gab einen Gegenvorschlag aus dem DMS-Vorstand: „erst investieren und dann verkaufen“. Dieser Vorschlag wurde jedoch vom damaligen Wirtschaftsminister in Schwerin abgelehnt. Müller konnte dies nicht nachvollziehen, da er den Minister nie im Zusammenhang mit Schiffbau kennengelernt hatte. Letztendlich wurde endgültig entschieden: Privatisierung vor Investition.
Die MTW erhielt im Rahmen der Privatisierung durch den Bremer Vulkan eine erhebliche Summe: 685 Millionen Mark ausschließlich für Investitionen. Davon waren 18 Millionen für Personalabbau und Reorganisation vorgesehen. Allerdings gab es bis 1994 keinen Konzernbeschluss zur Investition und Modernisierung der Werft. Als die damalige Chefin der Treuhand, Birgit Breuel, im Dezember 1994, kurz vor ihrem Ausscheiden, die Werft besuchte, wollte sie den Stand der Investitionen wissen. Der Vorstand des Bremer Vulkan, einschließlich Hennemann, war anwesend, schien aber über den tatsächlichen Stand der Investitionen im Unklaren zu sein. Müller präsentierte auf einer Folie, dass die Ausschreibungen vorbereitet waren und man im November beginnen könne. Erst daraufhin genehmigte der anwesende Vorstand Müllers Vorschlag. Breuel bedankte sich bei Müller für seine Arbeit und gab ihm ihre private Visitenkarte, um ihn 24 Stunden am Tag erreichen zu können – Hennemann erhielt keine solche Karte.
Die Investitionen begannen im November 1995. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits 285 Millionen investiert. Doch im Januar 1996 lud der Aufsichtsrat des Bremer Vulkan alle Geschäftsführer nach Bremen und teilte ihnen mit: „damit sie wissen wir sind pleite“. Müller hatte dies bereits kommen sehen. Im Dezember 1995 hatte er sich geweigert, eine Ablieferung von 25 Millionen Mark nach Bremen zu überweisen. Mit juristischem Beistand verzögerte er die Überweisung, bis die Bank geschlossen hatte. Diese 25 Millionen sicherten die Liquidität der Werft und ermöglichten die Erfüllung aller Zahlungsverpflichtungen, auch durch folgende Ablieferungen im Jahr 1996.
Die Umstrukturierung der Werft erforderte einen erheblichen Personalabbau. Das Thema war von Anfang an zentral in den Tarifverhandlungen. Es gab Vereinbarungen wie die Vorstandsregelung für 55-Jährige. Müller betonte die sozialverträglichen Maßnahmen, die von der Politik getroffen wurden. Das Durchschnittsalter der Fertigungsarbeiter sank nach dem Abbau auf 35 Jahre, da viele Ältere freiwillig gingen, um einer Entlassung zuvorzukommen. Müller stellte sogar die Arbeitsrichterin vom Kreisgericht ein, um die Belegschaft bei Entlassungen zu schützen. Sein Ziel war, dass niemand willkürlich entlassen wurde. So wurden beispielsweise 600 Mitarbeiter aus der Schiffsreparatur in den Neubau integriert. Er schuf ein Gremium aus Betriebsrat, Personalchef und der Richterin, das über Entlassungen entschied. Sie verloren kein einziges Gerichtsverfahren, da die Richterin die Vollmacht hatte, sich immer außergerichtlich auf die gleiche Summe zu einigen.
Nach der Insolvenz des Bremer Vulkan fielen die Gelder der Werft an den Insolvenzverwalter, der jedoch keine Forderungen gegenüber der Werft hatte. Die Rückübertragung erfolgte an das Land und damit wurde die Bundesvermögensanstalt (BVS) und das Land wieder Gesellschafter. Die Treuhand/BVS übernahm die Verträge mit dem Vulkan. Sie setzten die Werft nicht unter Druck, sondern suchten einen neuen Investor. Dieser wurde in dem Norweger White Mo gefunden, der in der Offshore-Branche etabliert war, aber nicht im Schiffbau. Aus den Unterlagen der Werft erkannte er die hohe Gewinnmarge bei den Schiffsverträgen. White Mo bot eine Beschäftigungsgarantie und Bestandsgarantie für einen Betrag von 80 Millionen an. Müller war skeptisch; er besuchte die Firma in Oslo und war überzeugt, dass dies nichts werden würde. Er teilte ihm mit, dass er sofort aufhören würde, sollte White Mo den Zuschlag erhalten, da er der Werft mit ihm keine Überlebenschance gab.
Müller traf die Entscheidung, zum 30. Juni aufzuhören. Er informierte Ministerpräsident Ringstorff und kündigte an, dies auf einer Betriebsversammlung bekannt zu geben. Er informierte auch den Betriebsrat, seinen Nachfolger und Mitgeschäftsführer, aber nicht seine Sekretärin oder die Belegschaft. Auf der Betriebsversammlung, bei der alle Mitarbeiter anwesend waren, hielt Ministerpräsident Ringstorff eine Rede, in der er Müller als „guten, aber schwierigen Partner“ lobte. Müller nahm daraufhin das Mikrofon und sagte humorvoll, er hätte anders auftreten können, wenn er das vorher gewusst hätte, was zu großem Gelächter führte.
Müller beschreibt seine Arbeit als Schiffsschlosser, Ingenieur und Werftchef als sehr gerne ausgeübt, mit Erfolgserlebnissen bei jedem Stapellauf und jeder Ablieferung. Er hatte ein Leitungsteam und konnte sich auf Meister, Arbeiter und Konstrukteure verlassen. Seine Philosophie war: „sie müssen nicht in der Arbeit werft arbeiten sie wollen in der Werft arbeiten“. Er sah die Verbundenheit der Mitarbeiter zu ihrem Unternehmen. Auch nach seinem Ausscheiden erhielt er Anerkennung, wie einen Blumenstrauß mit der Aufschrift „Tschüss Ossi“.
Oswald Müller steht exemplarisch für die Gestaltung des Wandels vor Ort. Seine Geschichte, festgehalten in den Quellen, beleuchtet die komplexen wirtschaftlichen und persönlichen Herausforderungen, die Unternehmer und Manager in Ostdeutschland nach 1990 meistern mussten. Seine Erfahrungen zeigen, wie der Alltag zwischen Marktzugang, Betriebsmodernisierung und institutionellen Hürden aussah, und laden dazu ein, die Treuhandzeit aus dieser spezifischen Perspektive neu zu betrachten.