Die Vorstellung, sich in die kühlen Fluten der Ostsee zu stürzen, mag heute für viele ein Synonym für Urlaubsfreude sein. Doch die Beziehung der Menschen zum Meer war lange von Furcht geprägt. Selbst Küstenbewohner mieden das Wasser, Aberglaube über Seeungeheuer und die Gefahr des Ertrinkens hielten die Menschen fern. Strände lagen jahrhundertelang leer und verlassen da. Das Leben an der Küste war für seine Bewohner vor allem hart und beschwerlich. Doch dies sollte sich Ende des 18. Jahrhunderts grundlegend ändern.
Die Geburtsstunde in Heiligendamm
Die Geschichte der deutschen Seebäder beginnt offiziell im Jahr 1793 in Heiligendamm an der Ostsee. Großherzog Friedrich Franz von Mecklenburg-Schwerin gründete hier das erste deutsche Seebad. Dieser wilde Küstenabschnitt vor den Toren Doberans wurde „Heiliger Damm“ genannt. Schon 50 Jahre später entwickelte sich hier die „weiße Stadt am Meer“. Samuel Gottlieb Vogel, der Leibarzt des Herzogs, war maßgeblich daran beteiligt, indem er 1793 Adelige zur heilsamen Wirkung des Meerwassers überredete. Gebadet wurde allerdings nicht in Doberan, sondern im näher am Meer gelegenen Heiligendamm. Die Idee, das Meerwasser zur Kur zu nutzen, gewann Verbreitung, nachdem der englische Mediziner Richard Russell 1753 eine Doktorarbeit über dessen Wirkung veröffentlicht hatte. Deutsche Leibärzte begannen daraufhin, adligen Herrschern eine Kur im Meer zu raten. Das „Planschen in der See“ wurde schnell zum Trend unter Adligen.
Adel, Etikette und strenge Regeln
Innerhalb von nur 20 Jahren entstanden weitere Badeorte an der Ostsee wie Travemünde, Boltenhagen, Warnemünde und Grömitz. Adelsfamilien ließen sich Logierhäuser und Schlösser erbauen. Bald folgte dem Adel das Großbürgertum. Die Aussicht auf ein Bad lockte die feine Gesellschaft ans Meer. Der Aufenthalt diente nicht nur der Gesundheit, sondern war auch ein sommerliches Stelldichein des deutschen und osteuropäischen Adels und später des Großbürgertums.
Das Badeleben war zunächst streng reglementiert. Hofrat Samuel Vogel erließ Baderegeln. So durfte niemand im Zustand beträchtlicher Ermattung kalt baden, musste ausgeruht sein und sich erst abkühlen. Gebadet wurde von Badekarren aus. Diese wurden rückwärts ins Wasser geschoben, sodass die Gäste sittsam bekleidet eintauchen konnten. Die Kleidung spielte eine immense Rolle. Ein häufiger Kleidungswechsel unterstrich den Wohlstand. Ganzkörperbedeckung war anfangs für Frauen Pflicht, was durch schwere Stoffe sogar zu Rettungseinsätzen führen konnte. Eine strikte Trennung der Geschlechter war vorgeschrieben. Auch beim Spaziergang über die Kurpromenade oder dem Besuch des Lesesaals war elegante Kleidung erforderlich. An der Badehose war der soziale Rang schließlich nicht erkennbar – man wusste nicht, ob es der Graf oder sein Diener war. Die Seebäder waren auch ein wichtiger Heiratsmarkt. Mütter versuchten, ihre Töchter an „einen Herrn von Rang“ zu vermitteln, und in manchen Saisons wurden Dutzende Ehen gestiftet.
Die „Weiße Stadt am Meer“ und ihre Architektur
Schon 50 Jahre nach der Gründung Heiligendamms entwickelte es sich zur „weißen Stadt am Meer“. Das 1816 errichtete Kurhaus prägte den Stil. Die Inschrift „Heic te laetitia invitat post balnea sanum“ – „Frohsinn erwartet dich hier, entsteigst du gesundet dem Bade“ – wurde zum Motto. Nach und nach entstanden Logierhäuser, Villen und Cottages. Die sogenannte Bäderarchitektur, die sich vor allem in den Kaiserbädern Heringsdorf, Ahlbeck und Bansin, sowie in Binz und Kühlungsborn findet, ist berühmt. Es ist eine Mischung aus Klassizismus, Renaissance und Jugendstil. Diese Architektur entstand, als das Großbürgertum die Seebäder entdeckte und sich prächtige Sommerresidenzen bauen ließ. Sie ist verspielter und reicher an Zierrat als Stadtarchitektur und Ausdruck des Wunsches, Freizeit zu verbringen und sich etwas leisten zu können.
Der unverzichtbare Strandkorb
Ein ikonisches Möbelstück deutscher Strände erblickte 1882 in Warnemünde das Licht der Welt. Der kaiserliche Hofkorbmachermeister Wilhelm Bartelmann erfand den Strandkorb. Der Legende nach baute er den ersten Korb für Elfriede Maltzahn, die an Rheuma litt und Sonne und Strand genießen wollte, ohne sich zu verkühlen. Bartelmanns Erfindung verbreitete sich schnell und schützte nicht nur vor Wind und Kälte, sondern bot auch praktischen Nutzen, etwa zur Aufbewahrung von Habseligkeiten. In Deutschlands ältester Strandkorbmanufaktur in Heringsdorf wird dieses Möbelstück bis heute in Handarbeit gefertigt und ist für Tausende Euro zu haben. Der Strandkorb ist bis heute eine Besonderheit heimischer Strände.
Vom Eliten-Treffpunkt zum breiteren Publikum
Über lange Zeit tummelten sich Hochadel und Großbürgertum in den Seebädern, die Verweildauer betrug oft sechs bis acht Wochen. Später kamen mittelständische und kleinbürgerliche Kreise hinzu, aber es handelte sich noch nicht um Massentourismus. Mit der Ausweitung des Publikums, etwa in Orten wie Sellin auf Rügen, erlangten auch neue Seebäder Bedeutung. Der Tourismus brachte Fortschritt. Sellin erhielt schnell getrennte Bäder für Herren, Damen und Familien. Mit Anbauten an die Seebrücke wie Musikpavillon und Lesehalle kam Glamour auf. Sellin galt als familienfreundlich, hier suchte man nicht Stars und Prominente, sondern fand schnell Spielkameraden am Strand.
Liberalisierung des Badelebens und neue Berufe
Langsam liberalisierte sich das Badeleben, insbesondere in den 1920er-Jahren. In Familienbädern wurde die Geschlechtertrennung aufgehoben. Die Bademode wurde lockerer und tolerierte nackte Haut. Damen konkurrierten in unterschiedlichen Kreationen, Klassiker wie das zweiteilige Trikot mit Häubchen kamen in Mode. Für die Herren wurde die Mode freizügiger, sie trugen Trikots mit Einblicken auf den Oberkörper. Der Berliner Maler Ernst Heilemann, bekannt als „Zille von Bansin“, hielt die Badeszenen humorvoll fest. Seine Darstellungen der üppigen Badenixen sorgten im prüden wilhelminischen Preußen sicher für Aufregung. Allerdings schritt der Staat auch regulierend ein: 1932 fand Preußen die Mode zu freizügig, und der „Zwickel-Erlass“ schrieb einen Badeanzug vor, der Brust und Leib bedecken und mit einem Zwickel versehen sein musste. Mit weniger Stoff fielen zumindest am Strand auch Standesdünkel.
Die 20er-Jahre brachten auch die wachsende Bedeutung von Freizeitsport und Spiel. Der Aufenthalt am Meer diente nun auch der Körperertüchtigung. Tennis, Golf und Pferdesport waren in Seebädern, die etwas auf sich hielten, fast immer anzutreffen. Die Rennbahn in Heiligendamm-Doberan ist die älteste auf dem europäischen Festland, Pferderennen fanden hier schon früh statt und regelmäßig bis 1939.
Ein neuer Beruf entwickelte sich durch den Zustrom der Touristen: der Strandfotograf. Hans Knospe in Sellin wurde in den 20er-Jahren zur Legende. Er verkaufte Urlaubsandenken auf steifem Karton, bezahlbar auch für die kleinen Leute. Knospe war Fotograf, Animateur, Entertainer. Er musste nicht wasserscheu sein, obwohl er nie schwimmen lernte. Sein Geschäft boomte, er hatte Angestellte. Der „Eisbärenfotografie“, bei der ein Angestellter im Eisbärenkostüm die Gäste auf der Seebrücke empfing, war in den 20er-Jahren in Mode.
Politische Schatten und dunkle Zeiten
Doch die 20er-Jahre waren nicht nur unbeschwert. Politische Konflikte machten sich bemerkbar. Am Strand wurden nicht nur Strandburgen und -körbe mit Flaggen dekoriert, sondern auch politische Gesinnung gezeigt. Viele Fahnen des Kaiserreiches waren zu sehen. Eine Minderheit wagte es, Schwarz-Rot-Gold, die Farben der Weimarer Republik, zu hissen und musste mit Reaktionen wie Fahnenklau oder Pöbeleien rechnen. Entspanntes, liberales Strandleben gab es nicht für jedermann. Bereits lange vor der Machtergreifung der Nazis wurden jüdische Gäste in deutschen Badeorten verstärkt diskriminiert. Hotels wiesen sie ab, sie wurden beschimpft, und schon lange sah man den Hitlergruß in den Seebädern. Der Bäderantisemitismus prägte sich seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in einzelnen Seebädern mit kleinbürgerlichem Publikum wie Zinnowitz und Borkum aus. Traditionsbäder wie Norderney und Heringsdorf galten als „Judenbäder“ wegen ihres eher internationalen Publikums und wurden verhöhnt. Mit der Machtergreifung der Nazis wurde der Bäderantisemitismus zur alltäglichen Erscheinung in allen deutschen Seebädern.
Das normale Leben veränderte sich drastisch. Statt flanierender Gäste zogen Uniformen im Gleichschritt vorbei. Der winkende Eisbär auf der Selliner Seebrücke wich Soldaten, die von strammen Mädels verabschiedet wurden. Naziprominenz und Hitlergruß ersetzten Badespaß und Urlaubsfreuden. Sellins Seebrücke wurde als U-Boot-Anleger genutzt. Strandfotograf Hans Knospe wurde zum Chronisten dieser neuen Zeit und dokumentierte die Radikalisierung des Lebens.
Während elite Seebäder wie Heiligendamm bedenkenlos von Nazi-Größen wie Göring, Hitler und Goebbels okkupiert wurden, hatten die Nazis andere Pläne für die breite Masse. Unter dem Motto „Kraft durch Freude“ (KdF) sollte Massentourismus für jedermann ermöglicht werden. Dafür wurde in Prora auf Rügen eine gigantische Bettenburg für 10.000 Gästezimmer gebaut, die jedoch nie fertiggestellt wurde. Prora war als Vorzeigeprojekt für die Masse gedacht, während Heiligendamm die Klasse repräsentierte.
Die Zeit der Teilung und des Verfalls
Nach dem Krieg nahm die Geschichte der Seebäder in der DDR eine andere Wendung. Die SED-Führung sah private Hoteliers und Gastwirte kritisch. 1953 wurden in der „Aktion Rose“ Hotels, Pensionen und Gaststätten zwangsenteignet. Ehemalige Kurhotels wurden zu „Erholungszentren“ der Gewerkschaft. Die Ostseeküste wurde zum Grenzgebiet, und an den meisten Stränden konnte man sich nur noch tagsüber frei bewegen. Auch Strandfotograf Hans Knospe musste mit staatlichen Restriktionen leben. Seine Selliner Seebrücke, einst Wahrzeichen und „Krone von Sellin“, verfiel und wurde 1978 abgerissen, was Knospe sichtlich bewegte.
Wiedervereinigung und Wiederaufbau
Nach der Wiedervereinigung waren viele Gebäude in den Seebädern der früheren DDR dem Verfall preisgegeben. Die „weiße Stadt am Meer“ in Heiligendamm bot einen traurigen Anblick. Der Zustand war kritisch, da pflegloser Umgang und Fehlnutzung ihren Tribut forderten. Paradoxerweise half der langsame Verfall zu DDR-Zeiten den ostdeutschen Seebädern. Da das Geld für Abriss und Neubau fehlte, blieb die Bäderarchitektur überwiegend erhalten, während sie in westdeutschen Bädern in den 60er- und 70er-Jahren oft durch moderne Gebäude ersetzt wurde.
Der Wiederaufbau war eine gewaltige Aufgabe. In Heiligendamm begann die Sanierung Mitte der 90er-Jahre mit viel Pomp. Das Land investierte Millionen. Bäderarchitektur zu erhalten, kostet viel Geld. Doch die „weiße Stadt am Meer“ ist heute fast vollständig wiederhergestellt. Allerdings kämpfen einige Häuser, wie das Grand Hotel Heiligendamm (das 2012 insolvent ging), mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten, da der Aufenthalt teuer ist und die Konkurrenz groß. Sellins Seebrücke wurde Mitte der 90er-Jahre dank der Bemühungen von Hans Knospe, der seine alten Fotos als Baupläne zur Verfügung stellte, wiederaufgebaut und 1998 fertiggestellt. Knospe, ältester Fotograf Deutschlands und Ehrenbürger von Sellin, erlebte dies noch mit Freude, bevor er ein Jahr später starb.
Der Sehnsuchtsort bleibt
Moderne Seebäder wie Boltenhagen locken heute internationale Gäste auch mit Sportveranstaltungen wie Segelweltmeisterschaften. Solche Veranstaltungen sind ein Segen für die Orte, bringen Aufmerksamkeit und ausgebuchte Betten.
Doch was zieht die Menschen bis heute ans Meer? Es sind vor allem Sonne, Sand und Wasser. Bewegung an frischer Luft. Und nostalgische Erinnerungen. Am Strand werden gestandene Geschäftsleute wieder zu Kindern, spielen im Sand und bauen Burgen. Die meisten Menschen sind von klein auf ans Meer gefahren, und die Rückkehr löst eine Art Regression aus – sie fallen in kindliche Schemen zurück.
Die Seebäder an Ost- und Nordsee sind heute die beliebtesten Urlaubsziele in Deutschland. Mit Millionen Übernachtungen und Tagesausflüglern pro Jahr sind sie ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Ein Boom, der 1793 mit dem ersten deutschen Seebad in Heiligendamm an der Ostsee begann.