Halberstadt. Mit einer eindringlichen Warnung vor einer existenziellen Bedrohung der Demokratie hat der Historiker und DDR-Experte Ilko-Sascha Kowalczuk in Halberstadt aufhorchen lassen. Im Zentrum seiner Analyse, basierend auf seinem Buch „Freiheitsschock“, stehen die traumatischen Transformationserfahrungen Ostdeutschlands seit 1989/90, deren Nachwirkungen er als Nährboden für aktuelle antidemokratische Tendenzen sieht. Weltweit, so Kowalczuk, stehe man vor der Wahl: „Freiheit versus Unfreiheit, Demokratie versus Diktatur.“
Kowalczuk prägte den Begriff des „Freiheitsschocks“, um die tiefgreifenden Verwerfungen zu beschreiben, die die schnelle Wiedervereinigung und die Währungsunion am 1. Juli 1990 für die ostdeutsche Gesellschaft bedeuteten. Der oft abrupte Verlust von Arbeitsplätzen – 80 Prozent der Ostdeutschen arbeiteten innerhalb von zwei Jahren nicht mehr in derselben Institution wie 1990 – und der Zusammenbruch vertrauter sozialer sowie kultureller Strukturen hätten einen „Phantomschmerz nach dem Kollektiv“ hinterlassen, der bis heute spürbar sei. Dies habe eine bis dahin unbekannte mentale Situation geschaffen.
Entgegen der verbreiteten Annahme sei die Revolution von 1989 keine Bewegung der Mehrheit gewesen, sondern von Minderheiten getragen worden, während die breite Masse abwartete. Die eigentlichen Zäsuren für die ostdeutsche Bevölkerung seien die erste freie Wahl am 18. März 1990, bei der 75% für den schnellsten Weg zur Einheit stimmten, und die Einführung der D-Mark gewesen – Entscheidungen für einen rasanten Einigungsprozess, den viele damalige Befürworter heute kritisch sähen oder verdrängten.
Als tiefere Ursachen für die heutige demokratische Fragilität, besonders im Osten, nannte Kowalczuk eine mangelhafte gesellschaftspolitische Aufarbeitung des Nationalsozialismus und der SED-Diktatur seit 1990. Diese sei oft „von oben herab“ erfolgt und habe die in Familien tradierten Narrative – die stärkste politische Sozialisationsinstanz – kaum erreicht. Besonders die „Baseballschlägerjahre“ der 1990er, in denen faschistische Jugendkulturen teils auf Akzeptanz stießen und von Teilen der Gesellschaft applaudiert wurden, hätten eine „faschistische Dominanzkultur“ hinterlassen. Die damaligen Jugendlichen seien nun Eltern, die diese Prägungen potenziell weitergeben. Eine schwache Zivilgesellschaft im Osten verstärke diese Problematik.
Scharfe Kritik übte der Historiker an Parteien wie der AfD, die er als faschistisch bezeichnete und für deren Verbot er plädierte, sowie am BSW. Beide agierten gegen das Grundgesetz und strebten eine „Diktatur der Mehrheit“ an, in der Minderheitenrechte keine Rolle spielten. Die Tatsache, dass über 10 Millionen Menschen in Deutschland solchen Kräften die Führung des Landes zutrauten, sei die eigentliche Herausforderung. Weltweite Entwicklungen wie Verunsicherung durch Globalisierung, Digitalisierung und eine polarisierende politische Rhetorik, die aus Gegnern Feinde mache, kämen als verstärkende Faktoren hinzu.
Kowalczuks Appell richtete sich eindringlich an die „anderen 75 Prozent“ der Bevölkerung. Diese demokratische Mehrheit müsse aufwachen, aktiv werden und für ihre Werte einstehen. „Demokratie funktioniert nur durch aktive Partizipation, Mitmachen und Teilhabe“, betonte er und kritisierte die mangelnde Sichtbarkeit von Universitäten als Verteidiger der Demokratie.
Die Botschaft des Historikers aus Halberstadt ist ein unmissverständlicher Weckruf: Ein passives Aussitzen der Probleme werde die Demokratie weiter erodieren lassen. Nur durch aktives Gegensteuern, das Stärken der demokratischen Mehrheit und das Eintreten für die Aufklärung lasse sich die Gefahr abwenden – auch auf die Gefahr hin, zu verlieren, denn sonst verliere man ohnehin, inklusive der Selbstachtung.