JP(+) Tag des Grundgesetzes – und was ist mit Jena?

Heute ist der Tag des Grundgesetzes – ein guter Moment, um ehrlich Bilanz zu ziehen. 1989 gingen wir in Jena, in Leipzig, in Dresden, überall in der DDR auf die Straße. Wir wollten mehr Demokratie. Mehr Beteiligung. Wir wollten als Bürgerinnen und Bürger ernst genommen werden. Was wir nicht wollten: dass sich aus der neuen Freiheit eine neue Elite formiert, die im Zweifel lieber unter sich bleibt. Und doch ist genau das passiert – auch hier, mitten in Jena.

Jena war einmal ein Symbol für Aufbruch. Heute ist es oft ein Symbol für Verschlossenheit, für eine Stadt, die sich nach außen offen gibt, aber nach innen oft hermetisch wirkt. Eine Stadt, in der Projekte, Ideen und Beteiligung nur dann gefördert werden, wenn sie ins Bild passen – in jenes Bild, das Verwaltung, Politik oder große Institutionen entwerfen. Das ist kein lebendiger demokratischer Prozess, das ist Kontrollwahn.

Die Kluft ist sichtbar – auch in den kleinen Dingen. Die Universität Jena bekommt erneut Millionen aus dem Exzellenzprogramm, unter anderem für die Erforschung sozialer Verhältnisse. Gleichzeitig zeigt die aktuelle Jugendstudie der Stadt, dass junge Menschen in Jena teilweise nicht mehr neben Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfängern wohnen wollen. Wie passt das zusammen? Wie kann es sein, dass in einer Stadt mit einem so hohen Bildungsgrad der soziale Zusammenhalt zu bröckeln beginnt? Das sind keine akademischen Fragen, das ist gelebte Realität. Und sie schreit nach Antworten.

Wer heute durch Jena läuft, spürt, wie sehr sich das Wir-Gefühl aufgelöst hat. Wir erleben ein Nebeneinander statt eines Miteinanders. Menschen begegnen einander oft nur noch als Funktionsträger – als Antragsteller, als Kunden, als Zuständige – aber kaum noch als Mitbürger. Dabei lebt Demokratie genau davon: vom echten Gespräch, von der Debatte im Stadtteil, von Begegnung – nicht von digitaler Beteiligung, die oft ins Leere läuft oder gar nicht ernst genommen wird.

Die Stadtgesellschaft in Jena braucht neue Orte und neue Wege des demokratischen Miteinanders. Nicht immer neue Gebäude oder Förderanträge, sondern Räume, in denen man sich wirklich begegnet. Orte, an denen man wieder „Guten Morgen“ sagt. Räume, in denen Kinder, Jugendliche, Rentner, Wissenschaftlerinnen, Handwerker und Menschen ohne Titel zusammenkommen. Das sind die wahren Exzellenzorte – nicht die in den Rankings, sondern die im Alltag.

Wenn wir das Grundgesetz heute feiern, dann dürfen wir es nicht als bloßes Jubiläum verstehen. Es ist eine Einladung – auch für Jena. Eine Einladung, über das Gemeinwesen neu nachzudenken. Eine Einladung, Demokratie nicht als Verwaltungsakt, sondern als gelebte Beziehung zu begreifen. Eine Einladung, Macht zu teilen und Verantwortung zurückzugeben – an die Menschen dieser Stadt.

Wir brauchen keine perfektionierte Smart City, sondern eine soziale Stadt. Eine Stadt, in der alle das Gefühl haben, dass ihre Stimme zählt. In der die Würde nicht nur im Gesetz steht, sondern auch im Alltag spürbar ist – am Ernst-Abbe-Platz, auf dem Wenigenjenaer Markt, im Damenviertel wie in Lobeda.

Wenn das gelingt, dann hätte dieser Tag des Grundgesetzes wirklich Bedeutung. Nicht als Ritual. Sondern als Aufbruch.

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