Die vergessenen Giganten Berlins

Berlin pulsiert als moderne Weltstadt – doch jenseits der glitzernden Fassaden und hippen Szeneviertel verbergen sich Relikte einer anderen Ära. Gigantische Bauprojekte, geplant als Manifestationen technischer Innovation und politischer Größe, stehen heute still und verfallen. Vier Orte – das ICC Berlin, das Krankenhaus Weißensee, das Bahnbetriebswerk Pankow-Heinersdorf und das Olympische Dorf Elztal – erzählen von Visionen und politischen Epochen, von Glanz und Verfall. Sie sind Zeugen historischer Umbrüche und Mahnmale für den Wandel, den eine Stadt im Tempo ihrer Zeit erlebt.

ICC Berlin: Der schlafende Kongresskoloss
Eröffnet 1979 als „Internationales Congress Centrum“, wuchs das ICC rasch zum Synonym für Großveranstaltungen. Mit 320 Metern Länge, 80 Metern Breite und 40 Metern Höhe gehört es zu den größten Kongresszentren der Welt. Im Inneren hängen zwei „schwebende“ Säle an massiven Stahlträgern – ein Ingenieurswunder, das gleichzeitig akustische Isolation und Flexibilität für parallel stattfindende Events bot.

Bis Ende der 1990er Jahre residierten hier Wissenschaftler, Politiker und Künstler aus aller Welt. Doch seit 2014 herrscht weitgehend Stille: Asbestaltlasten und marode Haustechnik hätten Sanierungskosten in dreistelliger Millionenhöhe nach sich gezogen. Statt die Hallen wieder mit Leben zu füllen, nutzt die Stadt das ICC heute nur sporadisch für Kunstinstallationen und Kulturprojekte. Ein geplanter Architekturwettbewerb für neue Nutzungskonzepte soll frischen Wind bringen – doch solange Investoren zögern, bleibt der silberne Riese ein stummer Zeuge seiner selbst.

Krankenhaus Weißensee: Vom Heilungsparadies zum Denkmal des Verfalls
Mit seinem Pavillon-Konzept und integrierten Parklandschaften galt das Säuglings- und Kinderkrankenhaus Weißensee, eröffnet 1911, als Pionier moderner Kinderheilkunde. Eine eigene Molkerei versorgte die kleinen Patienten mit frischer Milch, während lichtdurchflutete Korridore und Gartenpavillons eine heilsame Umgebung schufen. Bis zu 40 Säuglinge fanden zugleich Platz – eine Sensation für die damalige Medizin.

Doch 1997 schlossen sich die Türen für immer. Seitdem wächst zwischen den Backsteinwänden Unkraut, Fensterscheiben sind zerborsten, Hallenlicht fällt nur noch bruchstückhaft auf bröckelnde Fliesen. Unter Denkmalschutz stehend, droht die Anlage zum Lost Place zu verkommen. Pläne, hier eine Gemeinschaftsschule einzurichten, zeugen von der Sehnsucht nach einer Wiederbelebung: An dem Ort, der einst Heilung bot, sollen künftig Bildung und Gemeinschaft wachsen. Ob aus dem verwilderten Heilgarten ein lebendiges Lernumfeld erwächst, hängt von politischen Mehrheiten und Investitionsbereitschaft ab.

Bahnbetriebswerk Pankow-Heinersdorf: Das letzte Rundhaus
196 Jahre Eisenbahngeschichte verdichten sich im Bahnbetriebswerk Pankow-Heinersdorf. Auf 250.000 Quadratmetern erstrecken sich Hallen, Gleise und Rangiergleise – doch ihr Kern ist ein technisches Meisterwerk: das letzte erhaltene Drehscheiben-Rundhaus Deutschlands. Mit einem Durchmesser von 20 Metern drehte es einst Lokomotiven für ihre Weiterfahrt.

Seit der Stilllegung 1997 schweigen Hämmer und Presslufthämmer, Ölgeruch und Dampfwolken sind Vergangenheit. Ein Großteil der Gleisanlage wurde abgerissen, die verbliebenen Hallen verfallen zusehends. Bodenproben belegen teils starke Kontamination durch jahrzehntelanges Bahnbetriebswerk. Investorische Visionen von Einkaufszentren und Möbelmärkten fanden in der Realität der Altlasten und des Denkmalschutzes bisher kein tragfähiges Fundament. Gleichwohl: Das Gelände birgt Potenzial für eine Kombination aus Wohnen, Kultur und Mobilitätsmuseum – doch dafür muss erst der Zahn der Zeit gebremst werden.

Olympisches Dorf Elztal: Zeitkapsel der NS-Geschichte
Das Olympische Dorf von 1936 im Brandenburger Wald bei Elztal ist mehr als ein Sportareal: Es spiegelt drei deutsche Epochen in Stein und Holz. Architekt Werner March entwarf 136 Bungalows für 4.000 Athleten, eine spektakuläre Speisehalle und modernste Sportanlagen, darunter ein Schwimmbad mit innovativer Wasseraufbereitung. Doch hinter der sportlichen Bühne lauerten militärische Pläne: Wehrmacht und später die sowjetische Armee nutzten das Terrain als Kasernenstandort.

1992 verließen die letzten russischen Soldaten das Gelände. Seither zerfällt ein Großteil der Bauten, historische Mauern bröckeln. Teile stehen unter Denkmalschutz, einige Bungalows wurden ab 2019 in Wohnimmobilien umgewandelt. Damit beginnt ein neuer Lebenszyklus: Vom Propagandainstrument des NS-Regimes über militärische Nutzung bis zur privaten Wohnnutzung – das Dorf Elztal bleibt eine Zeitkapsel, die deutsche Geschichte in vier Jahrzehnten nachzeichnet.

Zwischen Denkmal und Zukunft
Die vier vergessenen Giganten Berlins stehen exemplarisch für den Balanceakt zwischen Erhaltungsaufwand und innovativer Umnutzung. Sie mahnen uns, dass jede Vision – so brillant sie zu ihrer Zeit war – dem Prüfstand der Jahre und politischen Interessen unterliegt. Doch sie bieten auch Chancen: Kulturzentren im ICC, eine lebendige Schule im alten Krankenhaus, ein Mobilitätsmuseum im Bahnbetriebswerk oder Wohnraum im Olympischen Dorf können Orte der Erinnerung und der neuen Geschichten werden.

Als Berliner Bürgerin oder Bürger kann man sich engagieren: in Initiativen zur Sanierung, in Fördervereinen zur Denkmalpflege oder durch politische Beteiligung an Planungsverfahren. Denn nur wer die Geschichten hinter rostigen Toren kennt und weiterträgt, kann die Zukunft dieser Giganten gestalten. Lassen Sie uns Berlin mit offenen Augen entdecken – nicht nur das Glänzende, sondern auch das Verborgene. Denn im Verfall liegt oft der Keim für eine neue Ära.

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