Vergiftete Erde, verseuchtes Wasser – Die stille Last einer industriellen Vergangenheit

Seit über 140 Jahren hinterlässt die Chemieindustrie in Deutschland ihre Spuren – Spuren, die nicht nur das Landschaftsbild, sondern auch die Gesundheit künftiger Generationen nachhaltig prägen. Aus den Ruinen der DDR-Chemie in den neuen Bundesländern bis zu den westdeutschen Industrieparks sind die Altlasten allgegenwärtig. Hinter modern sanierten Fassaden und frisch bepflanzten Straßen verbirgt sich oftmals ein gefährlicher Erbe: kontaminierte Böden, verseuchtes Grundwasser und eine systemische Intransparenz, die den Ernst der Lage verschleiert.

Bitterfeld: Vom Sorgenkind zur trügerischen Idylle
Noch vor drei Jahrzehnten galt Bitterfeld als Inbegriff einer verschmutzten Industrieregion. Heute präsentiert sich die Region in neuem Glanz: Fassaden glänzen frisch verputzt, Straßenbäume zeugen von einer scheinbaren Wiederbelebung, und der Gottscheesee lockt Erholungssuchende an. Doch unter der hübschen Oberfläche verbirgt sich ein düsteres Geheimnis: Auf knapp 100 Hektar lagern über sechs Millionen Tonnen Chemieabfall – ohne jegliche Abdichtung gegen das umgebende Grundwasser. Jahr für Jahr spült dieses kontaminierte Wasser die gefährlichen Abfälle in Richtung der Mulde und weiter in die Elbe. Die Grube Antonie ist dabei ein besonders besorgniserregender Fall. Gefüllt mit hochgiftigen Rückständen aus der Pestizidproduktion, darunter Lindan und DDT, reichte die Kontamination hier in eine Tiefe von bis zu 60 Metern.

Um den bedrohlichen Ausbreitungseffekten entgegenzuwirken, ist man in Bitterfeld auf ein komplexes System aus Pumpen und Abstromriegeln angewiesen, das täglich rund 2,5 Millionen Kubikmeter belastetes Grundwasser an die Oberfläche befördert, wo es gereinigt werden soll. Der immense finanzielle Aufwand – allein die jährlichen Kosten belaufen sich auf etwa zehn Millionen Euro – ist ein ständiger Mahnruf an die Herausforderungen, die mit der Sanierung dieser vergifteten Landschaft einhergehen.

Westdeutsche Altlasten: Das Beispiel Knapsack
Nicht nur in der ehemaligen DDR, sondern auch in den alten Bundesländern kämpft Deutschland mit den Folgen einer langen Industriegeschichte. Knapsack im Rheinland, einst Sitz großer Farbwerke und später ein berüchtigter Chemiepark, ist ein Paradebeispiel. Bereits vor 50 Jahren führte die massiven Luftverschmutzung zu Abrissarbeiten im Ort, doch die chemischen Altlasten ließen sich nicht einfach beseitigen.

Auf der Sonderabfalldeponie Knapsack lagern seit den 1960er Jahren etwa 20 Millionen Tonnen Chemiemüll. Hier wurden Dichtwände errichtet und Brunnen in Betrieb genommen, um das Versickern von belastetem Wasser zu verhindern. Dennoch zeigen Untersuchungen, dass gefährliche Stoffe wie Quecksilber und perfluorierte Toxine (PFT) bereits ins nahegelegene Roddersee sickern. Ein erschreckendes Indiz liefert der Befund hochkonzentrierter PFT im Blut von Anglern, die Welse aus dem verseuchten Gewässer verzehrten. Neben den offensichtlichen Umweltbelastungen sorgen zudem Geruchsprobleme und fehlende Transparenz in der Ursachenforschung für wachsende Unzufriedenheit bei den Anwohnern. Die Ahrtalflut im Juli 2021, die ein Überlaufen des Klärwerks zur Folge hatte, machte zusätzlich eindrücklich, welche Risiken von den Altlasten ausgehen können, wenn einmal extreme Wetterereignisse die ohnehin angespannte Lage weiter destabilisieren.

Unsichtbare Gefahren – Vertuschung und mangelhafte Kontrolle
Hinter den Fassaden modernisierter Industriegebiete wird oft der Eindruck erweckt, dass die Altlastenproblematik weitestgehend beseitigt sei. Doch journalistische Recherchen belegen das Gegenteil: Auf rund 560 Hektar wurden Industrieabfälle oftmals wahllos abgelagert, ohne dass es zu einer umfassenden Dokumentation kam. Behörden scheuen sich, die Ergebnisse von Gutachten aufgrund von Urheberrechten offenzulegen, was zu einer massiven Informationslücke gegenüber der Bevölkerung führt.

Besorgniserregend bleiben auch Fälle von extremen Belastungswerten. So wurde auf einem Sportplatz Boden mit bis zu 45.000 Milligramm Kohlenwasserstoffen je Kilogramm gefunden – hunderte Male über dem zulässigen Grenzwert. Bei anderen Proben, etwa wegen Cyanid-Belastung, wurden umfangreiche Vollschutzmaßnahmen ergriffen. Auf ehemaligen RWE-Flächen wurde zudem festgestellt, dass sechs Millionen Tonnen cyanidbelasteter Giftabfall nur einen Meter unter landwirtschaftlich genutzten Flächen lagern – ein Umstand, der das Risiko weiterer Kontaminationen in Grundwasser und Feldfrüchten unnötig erhöht.

Die Pyritproblematik: Vom Kohleabbau zu versäuerten Gewässern
Ein weiteres länderspezifisches Problem stellt die Freilegung von Pyrit infolge des Bergbaus dar. Pyrit, das an der Oberfläche oxidiert, spaltet sich in Eisen und Schwefel auf – letzterer reagiert zu Sulfat, das die Gewässer stark versauert. In diesem sauren Milieu werden zudem Schwermetalle wie Arsen, Cadmium und Nickel aus den Abraumlagern ausgewaschen. Die Problematik zeigt sich nicht nur in einzelnen Standorten, sondern in großen Regionen wie um Garzweiler und Hambach, wo die Auswirkungen auch nahe Trinkwasserwerken spürbar sind.

Ein Jahrhundertproblem – Die Last der Altlasten
Experten warnen, dass der Umgang mit den Altlasten ein Problem für Jahrhunderte darstellt. Die Sanierung verseuchter Böden und Grundwasser, die beinahe dem Volumen ganzer Seen entspricht, ist eine Aufgabe, deren Kosten und Risiken sich zwangsläufig über Generationen verteilen werden. Während örtliche Maßnahmen kurzfristig das Fortschreiten der Verschmutzung bremsen mögen, bleibt die Frage: Wer wird in 100 Jahren noch für die Sanierung aufkommen, wenn die Altlasten schließlich die Grenzen unserer heutigen Vorstellungskraft sprengen?

Die derzeitige Lage macht eines deutlich: Es handelt sich bei diesem Umweltproblem nicht um ein Relikt vergangener Industrialisierung, sondern um eine Herausforderung, die weit über die moderne Aufarbeitung hinausgeht. Inmitten politischer Auseinandersetzungen und wirtschaftlicher Interessen droht der Umweltschutz in den Hintergrund zu geraten – ein Schatten, der die kommenden Generationen dauerhaft begleiten könnte.

Die Geschichte der chemischen Altlasten in Deutschland ist ein mahnender Weckruf. Hinter den Fassade modernisierter Regionen verbergen sich die Narben einer Vergangenheit, deren Heilung gewaltige Anstrengungen erfordert. Der ständige Druck von Milliardeninvestitionen in Sanierungsmaßnahmen, die fortwährende Intransparenz und die systemische Vertuschung von Risiken lassen wenig Raum für Optimismus. Ein nachhaltiger, generationenübergreifender Umgang mit dieser Umweltkrise ist unumgänglich, um die Grundfeste unserer Natur und unserer Gesellschaft zu bewahren.

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