Im Dornröschenschlaf der Gleise – Die vergessene Geschichte der Friedhofsbahn

Berlin. Zwischen alten Schwellen und überwucherten Gleisen liegt ein stilles Kapitel Berliner Verkehrsgeschichte: die Friedhofsbahn. Einst als Verbindung zwischen der Großstadt und einem der größten Friedhöfe Europas gedacht, ist sie heute ein Ort des Verfalls – und der Erinnerung.

Am Rand Berlins, wo die Siedlung Dreilinden in die märkischen Wälder übergeht, trafen sich der Berliner Zeitzeuge und Fotograf Sigurd Hüttenbach und ein Filmteam, um die Vergangenheit einer Bahnlinie aufleben zu lassen, die einst Toten den Weg zur letzten Ruhe ebnete – und heute selbst wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten wirkt.

Eine Bahn für die Toten
Die Friedhofsbahn wurde 1913 in Betrieb genommen. Sie verband den Bahnhof Wannsee mit dem neu angelegten Südwestkirchhof Stahnsdorf, damals einer der drei zentralen Friedhofsanlagen, die im Berliner Umland entstehen sollten. Die Planung war vorausschauend: Mit dem rapide wachsenden Berlin gingen innerstädtische Begräbnisplätze zur Neige. Eine Bahnlinie für den Leichentransport – mit speziellen Waggons und einer Leichenhalle in Stahnsdorf – schien die logische Lösung.

„Das war keine normale S-Bahn“, erklärt Hüttenbach. „Die Strecke wurde mit Dampf betrieben, später elektrifiziert, aber ihr Hauptzweck war der Transport Verstorbener und ihrer Angehörigen.“

Krieg, Teilung – und Stillstand
Mit dem Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 wurde die Strecke endgültig stillgelegt. Die Linie verlief über die innerdeutsche Grenze – ein Fortbetrieb war ausgeschlossen. Und obwohl das Gleisbett, die Stromschienen und Signale noch intakt waren, blieb der Betrieb für immer eingestellt.

„Es sah damals so aus, als könne der Zug jederzeit wieder fahren“, erinnert sich Hüttenbach an seine Aufnahmen von 1962. Doch statt neuer Fahrgäste kamen nur noch Wind und Gras.

Die Westseite ließ die Gleise bald abbauen – jedoch nur bis zur letzten rechtlich erlaubten Stelle: der Grenze. „Die DDR ließ ihr Gleisstück liegen“, sagt Hüttenbach, „und so ist es bis heute – ein historisches Technikdenkmal mitten im Wald.“

Die Macht der Erinnerung
Sigurd Hüttenbach, selbst Zeitzeuge der Teilung, begann früh mit der fotografischen Dokumentation dieser unsichtbaren Narben der Stadt. Mit seiner Kleinbildkamera hielt er Absperrungen, verlassene Gleise und Grenzanlagen fest. Eine Arbeit, die heute von unschätzbarem Wert ist.

„Ich wollte alles sehen, was mir genommen wurde“, sagt er. „Die Mauer hat mir einen Teil meiner Stadt entzogen – also habe ich mich aufgemacht, ihn festzuhalten.“

Die Begegnung mit der alten Strecke endet symbolisch: Gemeinsam heben die beiden Männer einen verrosteten Schwellennagel aus dem Boden – geprägt mit der Jahreszahl 1908. Ein kleines Stück Geschichte, das nun als Andenken weiterlebt.

Zukunft ungewiss
Heute gleicht die Friedhofsbahn einer Naturbühne. Bäume, Sträucher und Moose haben die Trasse zurückerobert. Und doch – Pläne für eine Reaktivierung existieren. Ob die Friedhofsbahn je wieder in Betrieb geht, bleibt offen.

„Vielleicht in 20 oder 30 Jahren“, sagt Hüttenbach nachdenklich. „Dann werden andere mit frischen Augen auf diese Gleise schauen. Aber die Geschichte wird immer mitfahren.“

Tips, Hinweise oder Anregungen an Arne Petrich

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