35 Jahre nach der Einheit: Ostdeutsche Wut, westdeutsche Eliten!

35 Jahre nach dem Mauerfall sind Führungspositionen im Osten Deutschlands fest in westdeutscher Hand. Die Gründe liegen tief – und die Folgen reichen bis ins demokratische Fundament des Landes.

Als Angela Merkel 2005 zur Bundeskanzlerin gewählt wurde, war das für viele Ostdeutsche ein Symbol der Hoffnung. Eine von ihnen hatte es geschafft. Doch auch fast zwei Jahrzehnte später bleibt sie eine Ausnahme. In den Führungsetagen von Wirtschaft, Justiz und Verwaltung in Ostdeutschland sind Menschen mit DDR-Biografie selten – zu selten, wie viele sagen. Der Elitenmonitor zeigt: Noch immer stammen rund drei Viertel der ostdeutschen Führungskräfte aus dem Westen.

Ein Elitenwechsel mit Ansage
Die Antwort beginnt in den Umbrüchen nach 1989. Damals brach das DDR-System über Nacht zusammen. In den Behörden, Gerichten und Staatsbetrieben wurde ein komplettes Personal- und Systemupdate vollzogen – mit westdeutschem Know-how. „Die Justiz musste neu aufgebaut werden. Es gab kaum Richter, die ohne SED-Vergangenheit oder linientreue Urteile durch die Wende kamen“, sagt Iris Goerke-Berzau, eine Richterin aus Westdeutschland, die 1990 nach Sachsen-Anhalt kam. Sie blieb – wie viele ihrer Kollegen.

Ein vergleichbares Bild zeigt sich in der Wirtschaft. Ludwig Koehne, Oxford-Absolvent aus Westdeutschland, kam 1992 in den Osten, arbeitete für die Treuhandanstalt – und übernahm später den VEB „Schwermaschinenbau S.M. Kirow“ in Leipzig. Heute exportiert das Unternehmen Eisenbahnkrane in alle Welt. Ohne westliches Kapital und Wissen, so Koehne, wäre das unmöglich gewesen.

Ein Gefühl der Fremdbestimmung
Doch was für die einen Aufbauhilfe war, empfanden andere als Übernahme. Viele Ostdeutsche sahen sich nicht nur wirtschaftlich abgehängt, sondern gesellschaftlich entmündigt. Von rund 14.000 Treuhand-Verkäufen gingen nur 5 Prozent an ostdeutsche Investoren – oft aus Kapitalmangel. Die Führungsrollen übernahmen in der Regel Westdeutsche. Und sie blieben.

„Wenn man heute einen Polizeipräsidenten oder Richter in Ostdeutschland trifft, ist der Dialekt oft westdeutsch“, sagt Dirk Oschmann, Literaturprofessor aus Leipzig und Autor des Bucherfolgs „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“. Sein Werk, das sich 2023 über 170.000 Mal verkaufte, brachte ein lange unterdrücktes Gefühl auf den Punkt: Ostdeutsche erleben sich nicht als gleichberechtigte Bürger, sondern als Menschen zweiter Klasse – und das auf Basis realer Benachteiligungen.

Strukturelle Schieflage
Zahlen belegen diese Wahrnehmung: Kein einziger General der Bundeswehr stammt aus Ostdeutschland. Unter den über 300 Bundesrichtern finden sich gerade einmal 15 Ostdeutsche. Der einzige ostdeutsche Milliardär – Holger Leclerc – steht auf Platz 337 der reichsten Deutschen. Selbst in ostdeutschen Landesgerichten urteilen in letzter Instanz häufig westdeutsche Richter.

Warum ist das so geblieben? Ein Grund liegt in der Reproduktion von Eliten über Netzwerke. Wer aus dem Westen kam, hatte oft die richtigen Kontakte, das Kapital und das Selbstbewusstsein. Wer aus dem Osten kam, fehlte oft in genau diesen Kategorien – eine Folge der systematischen Diskreditierung ostdeutscher Biografien nach der Wende.

„Viele Ostdeutsche trauen sich gar nicht erst, sich für Laufbahnen wie meine zu bewerben“, sagt Manja Kliese, die im Auswärtigen Amt das Krisenreaktionszentrum leitet. Auch dort seien Ostdeutsche unterrepräsentiert – ein Phänomen, das sich durch Ministerien, Medien, Hochschulen und Unternehmen zieht.

Folgen für Demokratie und Zusammenhalt
Die gesellschaftlichen Folgen sind spürbar. In den Wahlergebnissen vieler ostdeutscher Bundesländer spiegeln sich Wut und Enttäuschung. Populistische Parteien wie die AfD oder das Bündnis Sahra Wagenknecht gewinnen an Zustimmung – auch, weil sie das Thema der westdeutschen Dominanz offen ansprechen. Wagenknecht fordert sogar eine Ostquote im öffentlichen Dienst.

Ob solche Quoten rechtlich möglich oder gesellschaftlich klug sind, ist umstritten. Doch das Problem bleibt: Wenn sich ein erheblicher Teil der Bevölkerung dauerhaft unterrepräsentiert fühlt, droht eine Entfremdung von demokratischen Institutionen.

Ein gesamtdeutscher Auftrag
Ludwig Koehne, der westdeutsche Unternehmer im Osten, warnt vor Schuldzuweisungen allein Richtung Westen. „Auch die Ostdeutschen müssen bereit sein, Verantwortung zu übernehmen.“ Es brauche mehr Selbstbewusstsein, mehr Beteiligung, mehr Mut.

Gleichzeitig aber sind gezielte Förderprogramme gefragt: Stipendien, Mentoring-Initiativen, Sichtbarkeit ostdeutscher Vorbilder. Nur wenn Ostdeutsche ihre Erfahrungen und Perspektiven in die Eliten einbringen können, entsteht ein wirklich vereintes Land – nicht nur auf der Landkarte, sondern auch in den Köpfen.

Denn was einmal als Übergang gedacht war, droht zum Dauerzustand zu werden.

Tips, Hinweise oder Anregungen an Arne Petrich

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