Im Jahr 1991 zeigt sich der Leipziger Hauptbahnhof als ein Bauwerk voller Gegensätze – monumental, geschichtsträchtig und doch seltsam leer. Einst war er ein Symbol technischer Höchstleistung und sozialistischer Gastfreundschaft, heute ringt er mit der Neuordnung eines ganzen Landes.
Der größte Kopfbahnhof Europas mit seinen 26 Gleisen unter sechs Hallen ist nicht nur verkehrstechnisches Herzstück, sondern auch Spiegel deutscher Geschichte. Bei seiner Einweihung 1915 – mitten im Ersten Weltkrieg – sprach der königlich-sächsische Baurat Erich Rothe von einem „Werk des Friedens“. Die gewaltige Symmetrie ermöglichte einst die Koexistenz zweier Verwaltungen – preußisch und sächsisch –, getrennt durch Gleis 13 und 14, vereint unter einem Dach.
In der DDR war der Bahnhof mehr als ein Verkehrsknoten. Mit eigenen Metzgereien, Konditoreien und sogar Stollenproduktion zu Weihnachten, war die Mitropa ein sozialistisches Versorgungsimperium. Franz Schreiber, jahrzehntelang Handelsleiter, erinnert sich mit Wehmut an die Zeit, als hier täglich Tausende Gäste bewirtet wurden.
Doch die Wende brachte radikale Umbrüche. Die Konsumgewohnheiten änderten sich, viele Stammkunden blieben aus, die einstigen Prestigeräume verwaisten. Die neue Freiheit, das Westauto und die Warenflut verlagerten das Reisen – vom Schienenverkehr zur Straße.
Auch emotional war der Hauptbahnhof ein Brennpunkt. Am 9. November 1989 strömten Tausende durch seine Hallen, um die neu gewonnene Reisefreiheit auszukosten. Schon Monate zuvor hatte er als Abschiedsort fungiert – für viele, die die DDR verließen, möglicherweise für immer.
Zwei Jahre später ist die Euphorie verflogen. Die Betriebsüberwachung kämpft mit alten Stellwerken aus den Jahren 1915 und 1936. Und dennoch bleibt Hoffnung: auf neue Schnellfahrstrecken, moderne Züge und eine Wiederbelebung des Reisezentrums.
Für Leipzig ist der Hauptbahnhof mehr als nur ein Ort – er ist ein kollektives Gedächtnis. Ein Ort des Stolzes, des Abschieds, des Neuanfangs.