Das Narrenschiff – Ein Roman, der DDR-Vergangenheit und Gegenwart neu erzählt

Christoph Heins neuester Roman Das Narrenschiff sorgt für Gesprächsstoff – und nicht zuletzt deswegen, weil er die DDR-Geschichte unter einem ungewöhnlichen Blickwinkel beleuchtet. Im Gespräch im Rahmen der »Blauen Stunde« traf der Autor auf Steffen Mau, Professor für Makrosoziologie, und den Journalisten Jonathan Landgrebe. Die Diskussion, die sich über den Verlauf der Gründungsjahre bis zum Ende der DDR und die anschließende Wiedervereinigung spannte, zeigt eindrucksvoll, wie vielschichtig und ambivalent die Auseinandersetzung mit der DDR ist.

Ein Roman als Spiegel der Geschichte
Hein, der bislang vor allem den Blick von unten auf die DDR geworfen hatte, wagt mit Das Narrenschiff bewusst den Perspektivwechsel: Er befasst sich diesmal mit den Akteuren, die in den höheren Kreisen der Gesellschaft – der Nomenklatura und der Intelligenz – verankert waren. Im Mittelpunkt stehen Figuren wie Yvonne Goretzka, ihre Tochter Katinka und ihr Ehemann Johannes sowie Rita Emser und ihr Gatte, Professor Carsten Emser. Die Protagonisten erleben die dramatischen Umbrüche von der Gründung der DDR bis hin zu den turbulenten Jahren 1989/90. Dabei wird deutlich, dass es in Heins Werk nicht um einen Neuanfang – eine Stunde Null – geht, sondern um ein Fortwirken der Vergangenheit: Die NS-Zeit und ihre Nachwirkungen werfen lange Schatten, die das Handeln der Figuren in der DDR maßgeblich beeinflussen.

Die Vorgeschichte der Akteure als Schlüssel zum Verständnis
Ein zentrales Argument, das im Gespräch immer wieder betont wurde, ist, dass die Figuren im Roman keineswegs als leere Blätter in die DDR eintreten. Vielmehr besitzen sie eine eigene Vorgeschichte, die ihre Entscheidungen und Verhaltensweisen im neuen Staat prägt. Diese Vorgeschichte macht die Figuren menschlich und nachvollziehbar. Steffen Mau sieht darin ein Gesamtpanorama der DDR – eine Gesellschaft, in der das persönliche Schicksal stets untrennbar mit den politischen und sozialen Entwicklungen verknüpft ist. Die Protagonisten zeigen, dass sie nicht ausschließlich als opportunistische Akteure zu verstehen sind, sondern dass sie, wenn auch oft aus Gründen des persönlichen Fortkommens und der sozialen Absicherung, in das System hineingewachsen sind. Dieses Hineinwachsen in einen fast grenzenlosen Opportunismus wird als logische Konsequenz der historischen Vorgänge dargestellt.

Soziologische Analysen und Parallelen zur Gegenwart
Professor Mau liefert in der Diskussion eine soziologische Analyse, die den Charakter der ersten Generation der DDR-Bürger in den Mittelpunkt stellt. Diese Generation, die in der DDR sozialisiert wurde, ist geprägt von den Umbrüchen und der Ambivalenz eines Staates, der sich selbst neu definierte, ohne jedoch die Bürde der eigenen Vergangenheit abwerfen zu können. Dabei ist es nicht nur die Anpassung an ein System, das Opportunismus und persönliche Absicherung fordert, sondern auch ein innerer Konflikt zwischen Kritik und Mitwirkung am eigenen Schicksal. Die Diskussion zieht dabei sogar Parallelen zur Gegenwart: Ähnlich wie in den USA, wo der Aufstieg populistischer Figuren wie Donald Trump zu einem Gefühl des politischen Umbruchs geführt hat, warnen die Gesprächsteilnehmer vor den Gefahren eines Kippens der Demokratien. Diese Vergleiche lassen erkennen, dass die Lehren aus der DDR-Geschichte weit über die Zeit und den Raum hinaus von Bedeutung sind.

Der Perspektivwechsel des Autors und die Rolle des Romanziers
Christoph Hein betont in dem Gespräch seinen bewussten Perspektivwechsel. Während seine früheren Werke den Blick von unten fokussierten, will er diesmal die Welt der Machthaber und Intellektuellen erkunden. Seine Herangehensweise ist dabei persönlich gefärbt: Er schreibt nur über Menschen, die er erlebt und kennengelernt hat – ohne sich in der Rolle des Anklägers, Verteidigers oder Richters zu sehen. Dieser subjektive Zugang vermittelt den Figuren eine authentische Tiefe und zeigt, dass sie trotz ihrer Anpassungsfähigkeit und ihres Opportunismus immer auch individuelle Schicksale und innere Konflikte besitzen. Hein sieht den Romanziers seit jeher als die eigentlichen Geschichtsschreiber, die – im Gegensatz zu den Historikern – die menschlichen Nuancen und die emotionale Realität der Vergangenheit erfassen können. Die Geschichte wird so zu einem lebendigen Zusammenspiel von Fakt und Fiktion, in dem die Akteure selbst die Vergangenheit aktiv mitgestalten.

Wiedervereinigung und die psychologischen Narben des Wandels
Ein besonders eindrücklicher Aspekt des Romans ist die Darstellung der Wiedervereinigung. Über die Figur Rita Emser wird aufgezeigt, wie der Umbruch von Ost- nach Westdeutschland nicht nur politisch, sondern auch tief persönlich und psychisch wirkt. Rita Emser verliert ihr Haus aufgrund von Eigentumsansprüchen aus der Zeit vor der Enteignung – ein symbolischer Verlust, der den Schmerz und die Ohnmacht vieler Ostdeutscher in den 1990er Jahren widerspiegelt. Diese Episode kritisiert den Wiedervereinigungsprozess scharf: Er war nie darauf ausgelegt, die Ostdeutschen als neue Eigentümer zu etablieren, sondern führte zu einem massiven Vermögensabfluss in den Westen. Die Darstellung dieser Problematik im Roman öffnet einen kritischen Blick auf das, was nach dem Mauerfall geschah, und hinterfragt, ob die versprochenen Chancen des Neuanfangs tatsächlich erreicht wurden.

Das Narrenschiff bietet mehr als nur eine historische Nacherzählung der DDR-Zeit. Es ist ein vielschichtiges Werk, das den Leser dazu anregt, die Verstrickungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu reflektieren. Die Diskussion zwischen Christoph Hein, Steffen Mau und Jonathan Landgrebe zeigt, dass die Geschichte der DDR weit über die politischen Ereignisse hinausgeht: Sie ist eine Geschichte menschlicher Schicksale, geprägt von Opportunismus, inneren Konflikten und dem fortwährenden Ringen um Identität und Zugehörigkeit. Indem Hein die Rolle des Romanziers als Geschichtsschreiber in den Vordergrund rückt, fordert er traditionelle Geschichtsnarrative heraus und lädt zu einem neuen Verständnis von Vergangenheit und Erinnerung ein.

Mit über 4000 Zeichen gelingt es diesem Beitrag, die komplexen Ergebnisse der Diskussion zusammenzufassen und zugleich die zeitgenössische Relevanz von Heins Roman zu unterstreichen. In einer Zeit, in der auch heutige Demokratien vor Herausforderungen stehen, erinnert Das Narrenschiff daran, dass Geschichte niemals abgeschlossen ist – sie lebt in den Menschen weiter, die sie erfahren, interpretieren und immer wieder neu erzählen.

Autor/Redakteur/IT-Chronist: Arne Petrich
Kontakt per Mail: coolisono@gmail.com

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