Dezemberstürme: Die Besetzung der Stasi-Zentrale in Frankfurt (Oder)

Dezember-Stürme-oder Hummeln am Hintern der macht. Die Stasi-Besetzung in Frankfurt Oder

Anfang 1989 lag Frankfurt (Oder) still und träge unter dem frostigen Winterhimmel. Die Oder floss ruhig wie seit Jahrhunderten, doch hinter den Kulissen der ostdeutschen Grenzstadt gärte es. Die DDR war in ihrer letzten Phase, und der Wunsch nach Freiheit, Reformen und Transparenz gewann auch in Frankfurt an Fahrt. Das Jahr 1989 sollte zum Schicksalsjahr für das Regime der SED und besonders für die allgegenwärtige Staatssicherheit (Stasi) werden. Die Besetzung der Stasi-Zentrale in Frankfurt (Oder) am 5. Dezember 1989 markiert einen Höhepunkt dieses Umbruchs – ein symbolträchtiges Ereignis, das von Mut, Besonnenheit und einem unbeugsamen Willen zur Veränderung geprägt war.

Das Wichernheim – Brutstätte des Widerstands
Ein Brennpunkt des Wandels in Frankfurt war das Wichernheim, eine kirchliche Einrichtung für Behinderte, geleitet von Pfarrer  Christian Gehlsen. Das Heim bot Zuflucht und Arbeit für Menschen, die in der DDR-Gesellschaft nicht ihren Platz gefunden hatten: Ausreisewillige, Oppositionelle, gesellschaftliche Außenseiter und Neuanfänger.

„Das Wichernheim war eine Insel im roten Meer,“ beschreibt Gehlsen. „Hier sammelten sich engagierte Menschen, die nach neuen Wegen suchten.“ Unter den Mitarbeitenden des Heims bildete sich eine Gruppe des Neuen Forums, die maßgeblich an den oppositionellen Aktivitäten in der Stadt beteiligt war.

Einer der Aktivisten war Hartmut Kelm, ein ehemaliger Ingenieur, der sich von der Bürokratie des DDR-Wirtschaftssystems abgewandt hatte: „Die Wende hat mich erweckt. Ich konnte diese absurden Berichte über Planerfüllung nicht mehr ertragen.“ Im Wichernheim fand er Gleichgesinnte, die das Zentrum der revolutionären Bewegung in Frankfurt (Oder) bildeten.

Der Ruf nach Veränderung
Die Proteste in der DDR, die im Sommer und Herbst 1989 aufkamen, erreichten Anfang November ihren Höhepunkt. In Frankfurt (Oder) strömten zehntausende Bürger in die Straßen, um Freiheit und Reformen zu fordern. Die Parolen „Wir sind das Volk!“ und „Wir bleiben hier!“ hallten durch die Stadt.

Ein zentraler Punkt dieser Demonstrationen war die Forderung nach einem Ende der Überwachung durch die Stasi. Die Geheimdienstzentrale in Frankfurt (Oder), ein imposantes neues Gebäude, verkörperte die allgegenwärtige Kontrolle des Regimes. Mit fast 2.500 Mitarbeitenden im Bezirk galt die Stasi als unantastbar – ein Irrglaube, der im Dezember widerlegt wurde.

Der 4. Dezember: Die Welle erreicht Frankfurt
Am 4. Dezember 1989 besetzten Bürger in Erfurt als erste die Bezirksverwaltung der Stasi. Dieses Ereignis setzte eine Welle in Bewegung, die auch Frankfurt (Oder) erfasste. Aktivisten und Bürgerrechtsgruppen begannen, die Stasi-Zentrale in der Stadt ins Visier zu nehmen.

Renate Schubert, eine Aktivistin des Neuen Forums, erinnert sich: „Wir wussten, dass die Stasi Akten vernichten wollte. Es war unsere Aufgabe, das zu verhindern.“ Die Gerüchte über Schreddermaschinen und Verbrennungen in Hinterhöfen befeuerten die Entschlossenheit der Demonstrierenden.

Der 5. Dezember: Der Tag der Besetzung
Am Morgen des 5. Dezember 1989 versammelten sich etwa 2.000 Menschen vor der Stasi-Zentrale. Es war eine frostige, aber aufgeladene Stimmung. Demonstranten trugen Kerzen, sangen Volkslieder und forderten den Zugang zu den Räumlichkeiten.

„Wir standen vor diesen riesigen Toren,“ berichtet ein Demonstrant. „Die Stasi-Mitarbeiter versteckten sich hinter den Fenstern. Wir spürten ihre Unsicherheit.“

Die Situation drohte zu eskalieren, als die Menge immer lauter wurde. Pfarrer Gilsen und andere Kirchenvertreter stellten sich mit ausgebreiteten Armen zwischen die Demonstranten und die Tore der Stasi-Zentrale, um Gewalt zu verhindern. „Das war mein glücklichster Moment,“ sagt Gilsen. „Wir haben es geschafft, die friedliche Revolution zu bewahren.“

Schließlich trat der Stasi-Chef Heinz Engelhardt vor die Menge. In einem überraschend höflichen Ton einigte man sich darauf, dass eine Delegation das Gebäude betreten durfte, um die Sicherung der Akten zu überwachen.

Ein Blick hinter die Kulissen
Die Bürgerkomitees, die in die Stasi-Zentrale gelangten, fanden eine Mischung aus Chaos und Disziplin vor. Obwohl Engelhardt beteuerte, dass keine Akten vernichtet würden, entdeckte man in Hinterzimmern zerrissene Dokumente und laufende Schreddermaschinen.

„Wir wussten nicht, was wir suchen sollten,“ erinnert sich ein Mitglied des Bürgerkomitees. „Es war überwältigend – meterhohe Regale voller Akten, die das Leben tausender Menschen dokumentierten.“

Trotzdem gelang es, viele Unterlagen zu sichern, die später zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit beitrugen. Die Besetzung der Stasi-Zentrale in Frankfurt (Oder) war ein entscheidender Schritt in diesem Prozess.

Die Rolle der Kirchen
Ein wesentlicher Faktor, der die friedliche Natur der Revolution bewahrte, war die Vermittlungsrolle der Kirchen. Pfarrer wie  Christian Gehlsen agierten als Moderatoren zwischen den Bürgern und der Staatsmacht. „Wir haben deeskaliert, wo wir konnten,“ betont  Gehlsen. „Unser Ziel war es, Gewalt zu vermeiden und eine Grundlage für den Dialog zu schaffen.“

Die Bedeutung der Besetzung
Die Ereignisse vom 5. Dezember 1989 in Frankfurt (Oder) sind ein Zeugnis für die Kraft des zivilen Widerstands. Sie zeigen, dass Mut und Entschlossenheit selbst gegen ein repressives System Erfolg haben können.

Die Besetzung der Stasi-Zentrale war nicht nur ein symbolischer Akt, sondern ein Meilenstein in der Aufarbeitung der SED-Diktatur. Die gesicherten Akten ermöglichten es späteren Generationen, die Mechanismen des Überwachungsstaates zu verstehen und aufzuarbeiten.

Epilog: Die Erinnerung bewahren
Heute erinnert wenig an die turbulenten Tage des Dezember 1989. Wo einst die Stasi residierte, üben heute Bläserchöre oder finden Kulturveranstaltungen statt. Doch die Erinnerung an die mutigen Bürgerinnen und Bürger, die damals den Wandel einleiteten, bleibt lebendig.

Jedes Jahr am 5. Dezember finden in Frankfurt (Oder) Gedenkveranstaltungen statt, um an die Besetzung der Stasi-Zentrale zu erinnern. Sie sind eine Mahnung, dass Freiheit und Demokratie nicht selbstverständlich sind, sondern verteidigt werden müssen – damals wie heute.

Redakteur/Autor/Blogger/Journalist: Arne Petrich

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