Neue gesamtdeutsche Verfassung: Ein Schritt zur Stärkung der Demokratie?

Tag der Deutschen Einheit 2024: Zeit für eine neue Verfassung? | Mauerfall, Wiedervereinigung

Christian Tretbar, Chefredakteur des Tagesspiegels, hat in seiner Video-Kolumne „VerTRETBAR“ zum Tag der Deutschen Einheit 2024 tiefgründige Gedanken zur deutschen Wiedervereinigung und ihrer Folgen formuliert. Er geht dabei nicht nur auf den Stand der wirtschaftlichen Angleichung zwischen Ost- und Westdeutschland ein, sondern beleuchtet auch das Gefühl vieler Ostdeutscher, noch immer Bürger zweiter Klasse zu sein. Sein Fazit: Die Deutsche Einheit ist noch nicht abgeschlossen – vor allem auf emotionaler und gesellschaftlicher Ebene.

Erfolge und Probleme in Ostdeutschland
Tretbar hebt zunächst einige positive Entwicklungen hervor: In mehreren ostdeutschen Bundesländern sei die Wirtschaftskraft inzwischen höher als in westdeutschen Nachbarregionen. Auch in Bezug auf Erwerbstätigkeit von Frauen oder die Kinderbetreuungsquote liege der Osten deutlich vorne. Besonders auffallend ist die Tatsache, dass es mittlerweile mehr Zuzug von West- nach Ostdeutschland gibt, als umgekehrt. Diese Fortschritte belegen, dass sich in den ostdeutschen Ländern seit der Wiedervereinigung viel getan hat.

Trotz dieser positiven Aspekte bleibt das Problem bestehen, dass Ostdeutsche in Spitzenpositionen, sowohl in Politik als auch in Wirtschaft, immer noch unterrepräsentiert sind. Diese Entwicklung zeugt davon, dass die gesellschaftliche Teilhabe und Anerkennung vieler Ostdeutscher auch 34 Jahre nach der Wiedervereinigung nicht auf dem gleichen Niveau ist wie im Westen.

Die Frage der Deutschen Einheit
Für Tretbar ist die oft gestellte Frage, ob die Deutsche Einheit gelungen sei, irreführend. Es gehe nicht um eine vollständige Angleichung der Lebensverhältnisse, sondern vielmehr darum, eine deutsche Vielfalt auf einer gemeinsamen Grundlage zu ermöglichen. Diese „gemeinsame Grundlage“ fehle jedoch vielen Ostdeutschen. Sie fühlten sich als Bürger zweiter Klasse, was nicht nur auf wirtschaftliche Unterschiede zurückzuführen sei, sondern auf tiefere, strukturelle Fehler im Prozess der Wiedervereinigung.

Tretbar erläutert, dass der Geltungsbereich des Grundgesetzes 1990 einfach auf die neuen Bundesländer ausgedehnt wurde, was zwar der pragmatischste und schnellste Weg gewesen sei, aber den Ostdeutschen das Gefühl gegeben habe, dass ihre Lebensrealitäten und ihre Erfahrungen in der DDR wenig bis gar keine Rolle spielten. Diese Entscheidung, so verständlich sie damals gewesen sein mag, habe langfristige Auswirkungen auf das Selbstverständnis und das Wir-Gefühl der Deutschen insgesamt.

Eine neue Verfassung als Lösung?
Tretbar fordert in seinem Video eine tiefgreifende Debatte über die Möglichkeit einer neuen gesamtdeutschen Verfassung. Diese solle auf den Werten des Grundgesetzes aufbauen, jedoch das Ziel verfolgen, ein stärkeres Gemeinschaftsgefühl zu schaffen, das sowohl die westdeutsche Tradition als auch die Bedürfnisse und Erfahrungen der Ostdeutschen berücksichtigt. Eine neue Verfassung könnte ein „neues Wir-Gefühl“ schaffen und dazu beitragen, das Vertrauen in die demokratischen Institutionen zu stärken.

Die Idee einer neuen Verfassung ist gewagt und könnte kontrovers diskutiert werden. Dennoch verweist Tretbar auf die Notwendigkeit, das gesellschaftliche Fundament zu festigen. Gerade in Zeiten von schwindendem Vertrauen in die Politik, sinkender Parteienbindung und wachsendem Populismus sei es wichtiger denn je, die Demokratie „sturmfester“ zu machen.

Ostdeutsche Bedürfnisse und gesellschaftliche Teilhabe
Ein weiterer zentraler Punkt, den Tretbar anspricht, ist die Frage nach den spezifischen Bedürfnissen der Ostdeutschen. Diese lassen sich nicht nur auf wirtschaftliche Fragen reduzieren. Viele Menschen im Osten fühlen sich nach wie vor nicht gehört oder beteiligt. Es fehle an gesellschaftlicher Partizipation. Tretbar bringt hierbei die Idee von Bürgerräten ins Spiel – also Formate, in denen Bürger direkter in politische Entscheidungsprozesse eingebunden werden können, jenseits der traditionellen parlamentarischen Strukturen.

Die Unzufriedenheit im Osten manifestiere sich auch in einem früher und oft schärfer auftretenden Vertrauensverlust in politische Institutionen. Dieses Phänomen, so Tretbar, werde in schwächerer Form auch im Westen zu beobachten sein. Doch der Osten sei hier ein Vorreiter, in vielerlei Hinsicht sei die Krise des Vertrauens in die Demokratie dort weiter fortgeschritten.

Deutsche Einheit 2024 – eine unvollendete Mission
Zum Abschluss seiner Kolumne macht Christian Tretbar deutlich, dass die deutsche Einheit 2024 nicht als abgeschlossen betrachtet werden kann. Vor allem die gesellschaftliche Einheit sei noch immer in Arbeit. Ohne ein neues „Wir-Gefühl“, das alle Teile Deutschlands zusammenbringe, werde die Deutsche Einheit auch in Zukunft brüchig bleiben.

Tretbar ruft zu einer Debatte auf – einer Debatte, die das Ziel haben müsse, die Selbstvergewisserung Deutschlands als geeinte Nation voranzutreiben. Zwar sei es möglicherweise unrealistisch, eine völlig neue Verfassung zu schaffen, aber es sei auf jeden Fall notwendig, sich über die gemeinsame Zukunft der deutschen Demokratie Gedanken zu machen.

In einer Zeit, in der die Demokratie auf globaler Ebene immer mehr unter Druck gerät, könnte die Schaffung einer neuen gesamtdeutschen Verfassung ein wichtiger Schritt sein, um das Vertrauen in die demokratischen Institutionen zu stärken und das Gefühl einer gemeinsamen Wertegemeinschaft zu fördern. Ob und wie diese Vision umgesetzt werden kann, bleibt offen – aber Tretbars Kolumne liefert einen wertvollen Beitrag zu einer Debatte, die weit über den heutigen Tag der Deutschen Einheit hinaus von Bedeutung ist.

Autor/Redakteur: Arne Petrich

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