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Erich Honeckers rollender Thron

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Es ist ein Detail der DDR-Geschichte, das vielen unbekannt ist: Ab 1978 setzte Erich Honecker, der damalige Staatsratsvorsitzende, auf eine westliche Limousine als seine offizielle Staatskarosse – den Citroën CX 25 Prestige. Diese Wahl war kein Zufall, sondern eng mit den wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der DDR und Frankreich verknüpft.

Im Jahr 1978 überließ Frankreich der DDR drei Citroën Prestige. Ziel dieser Geste war es, die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den beiden Ländern zu intensivieren. Offenbar fand die französische Limousine schnell Anklang an der Spitze der DDR-Führung. Honecker persönlich lernte bald den Fahrkomfort des Citroën zu schätzen. Ein entscheidender Faktor dabei war die hydropneumatische Federung. Es wurde sogar kolportiert, dass er dank dieser fortschrittlichen Technologie förmlich „über die Missstände der DDR hinwegschwebte“, da die schlechten Straßenverhältnisse von den Autos wunderbar ausgeglichen wurden und er davon kaum etwas mitbekam.

Der Citroën CX 25 Prestige war in seiner Ausführung als Staatskarosse bemerkenswert. Die „Prestige“-Variante zeichnete sich durch längere hintere Türen aus, eine Konfiguration, die direkt ab Werk bei Citroën bestellt werden konnte. Der Innenraum bot dem Passagier auf der Rückbank, dem sogenannten „Meister“, ausreichend Platz und war mit Fußstützen für bequemes Reisen ausgestattet. Am Armaturenbrett fanden sich die für Citroën dieser Ära charakteristischen Bedienungssatelliten anstelle herkömmlicher Hebel für Blinker oder Scheibenwischer. Ein weiteres technisches Highlight war der rollentacho, bei dem Geschwindigkeit und Drehzahl auf einer Rolle angezeigt wurden. Die Fahrzeuge verfügten über Automatikgetriebe und Klimaanlage. Die Fahrzeughöhe konnte über die Federung angepasst werden, wobei das Auto nach längerer Standzeit absank und sich nach dem Start automatisch wieder auf sein Niveau pumpte. Eine Besonderheit der für die DDR georderten Modelle war die Scheinwerfer-Wisch-Waschanlage, die der Skandinavien-Version entsprach und sonst selten an einem CX zu finden war. Für offizielle Anlässe oder Paraden konnten vorne Standarten angebracht werden. Im Bedarfsfall gab es ein Magnet-Blaulicht, das auf einer Metallplatte unter dem Handschuhfach verstaut und über eine Stromdose auf der Beifahrerseite bedient werden konnte. Angetrieben wurden die Limousinen von einem 2,5-Liter-Motor mit 136 PS.

Die anfänglich erhaltenen Fahrzeuge wurden intensiv genutzt, sodass 1984 eine Nachbestellung von 8 bis 10 identischen Fahrzeugen erfolgte. Für den 40. Jahrestag der DDR im Oktober 1989 gab es besondere Pläne: Zwei der jüngsten Modelle sollten zu Langversionen umgebaut werden. Dies geschah unter anderem, um dem erwarteten Staatsgast Mitterrand zu zeigen, dass die DDR ebenfalls eine lange Staatslimousine vorweisen konnte. Nachdem diverse französische Firmen ablehnten, übernahm die schwedische Firma Volvo (Nielsen) den Umbau, was aufgrund guter Geschäftsverbindungen möglich war. Die Verlängerung der zwei Fahrzeuge gelang innerhalb von nur vier Monaten. Geplant war die Auslieferung pünktlich zur Jubiläumsfeier. Doch die politischen Entwicklungen überholten die Pläne: Aufgrund der beginnenden Unruhen im Land wurde entschieden, die fertiggestellten Fahrzeuge vorsorglich in der Garage zu lassen.

So blieb diesen besonderen, verlängerten Citroëns die geplante Präsentation verwehrt. Dennoch sind die Citroën CX 25 Prestige als Erich Honeckers „rollende Throne“ ein faszinierendes Kapitel der deutsch-französischen Wirtschaftsgeschichte und ein Stück ungewöhnlicher DDR-Geschichte. Eines der Originalfahrzeuge befindet sich noch heute in einer Garage.

Gundermann lieferte den rohen Stoff – Tamara Danz brachte ihn zum Brennen

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Es gibt künstlerische Begegnungen, die nie als großes Duett verkauft wurden – und trotzdem eine ganze Epoche prägen. Die Zusammenarbeit von Tamara Danz und Gerhard Gundermann gehört genau in diese Kategorie. Kein offizielles Duo, kein gemeinsames Studiofoto, keine PR-Story. Und doch entstanden aus dieser losen Verbindung einige der eindringlichsten Songs, die der Osten nach der Wende hervorgebracht hat.

Gundermann, der Tagebaubaggerfahrer mit poetischem Tiefgang, fand Worte, die rochen wie Kohlestaub und Hoffnung zugleich. Zeilen voller Müdigkeit, Wut, Zärtlichkeit. Und Danz, die große Stimme der DDR-Rockmusik, machte daraus Musik, die brannte. Es war, als würde jemand einen Funken in einen bereits glühenden Kern werfen. Ihre Stimme, rau und zugleich verletzlich, gab diesen Texten ein neues Leben – eines, das man nicht nur hören, sondern körperlich spüren konnte.

Gerade „Hurensöhne“, „Ich vermisse dich“ oder „Bye Bye My Love“ klingen, als wären sie direkt aus einem Tagebuch gerissen, das jemand in einer Kneipe verloren hat. Gundermann schrieb nicht für Silly – aber Silly, und vor allem Danz, sangen so, als hätte er ihnen etwas hinterlassen, das sie unbedingt weitertragen mussten. Zwischen den Zeilen liegen Schicksale einer Generation, die zwischen Aufbruch und Abrissbirne stand.
Vielleicht ist das das Geheimnis ihrer stillen Allianz: Beide kannten die Brüche dieses Landes aus erster Hand. Beide wussten, wie es sich anfühlt, wenn ein System geht – und ein anderes noch nicht angekommen ist. Und beide wussten, dass man diese Geschichten nicht glattpolieren darf.

So blieb ihre Zusammenarbeit unprätentiös, unbürokratisch, fast zufällig. Und gerade deshalb wirkt sie bis heute. Sie ist der Beweis, dass große Musik manchmal dort entsteht, wo zwei Menschen denselben Nerv treffen – ohne Absicht, ohne Vertrag, aber mit einer Wahrhaftigkeit, die unvergessen bleibt.

Lindenberg, die FDJ und ein Seitenausgang, der alles veränderte

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Es gibt diese Abende in der DDR-Geschichte, an denen das System für einen Moment flackerte – nicht zusammenbrach, aber kurz sichtbar wurde, wie dünn die Schicht der Kontrolle wirklich war. Der 25. Oktober 1983, Udo Lindenberg im Palast der Republik, war genau so ein Abend. Und vielleicht spürt man das heute stärker als damals: Dass in diesem sauber geplanten, akribisch gesicherten Konzert etwas passierte, das im Drehbuch der SED nicht vorgesehen war.

Die Staatssicherheit hatte Monate damit verbracht, den „Panik-Rocker“ einzuhegen wie ein gefährliches Naturphänomen. Ein Publikum aus 4.200 handverlesenen FDJ-Kadern, Metallsperrgitter rund um den Marx-Engels-Platz, 300 Stasi-Mitarbeiter im Einsatz, IMs im Umfeld Lindenbergs, ein strikt choreografierter Tagesplan. Die DDR wollte Offenheit simulieren, aber unter Laborbedingungen. Die Jugend sollte nach Frieden aussehen – nicht nach Freiheit.

Und doch: Als Lindenberg die Pressesaal-Bühne betrat und sagte, es dürfe „keine Pershings und keine SS-20“ geben, rutschte der Inszenierung der Teppich weg. Ein Satz, der den offiziellen Einbahn-Pazifismus durchbrach, ein Echo der unabhängigen Friedensbewegung. Man spürte, wie die FDJ-Funktionäre im Raum innerlich zusammenzuckten, ohne es zeigen zu dürfen.

Der eigentliche Kontrollverlust fand aber draußen statt. Lindenberg verließ den Palast nicht durch den geplanten Haupteingang, sondern durch einen Seitenausgang. Und plötzlich stand er da: mitten unter echten Fans, die sich trotz Sperrgürteln durchgekämpft hatten. Für ein paar Minuten existierte die DDR, wie die Stasi sie sich wünschte, nicht mehr. Stattdessen entstand ein Moment ungefilterter Nähe – ein Star und seine Leute, ohne Sicherheitslinie dazwischen.

Was dann geschah, verschwand aus den offiziellen Berichten: Jugendliche, die zu Boden geschlagen wurden, Kameras, die entwendet und zerstört wurden, eine Atmosphäre, die ein junger Mann später als „gespenstisch“ beschrieb. Das MfS sprach nüchtern von „Zuführungen“. Die Betroffenen sprechen noch heute von einem Schlüsselerlebnis.

Es ist kein Zufall, dass die geplante Tournee danach nie stattfand. Die DDR-Führung hatte begriffen, dass Lindenberg nicht kontrollierbar war – und dass ein einziger Seitenausgang genügte, um eine ganze Sicherheitsarchitektur lächerlich erscheinen zu lassen.

Vielleicht ist das die wichtigste Lehre dieses Abends: Nicht, wie mächtig die Stasi war, sondern wie schnell ihre Macht brüchig wurde, sobald die Wirklichkeit nicht mehr mitspielte.

Alice und Ellen Kessler wählen den selbstbestimmten Tod

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Es war das wohl letzte große Ritual eines Lebens, das in vollkommener Synchronität begonnen hatte. Alice und Ellen Kessler, zwei der berühmtesten Zwillinge der deutschen Unterhaltungsgeschichte, haben ihrem Dasein gemeinsam ein selbstbestimmtes Ende gesetzt – still, vorbereitet, konsequent. 89 Jahre lang standen sie Seite an Seite: auf Bühnen, in Fernsehstudios, auf Welttourneen. Und nun auch im Tod.

Geboren 1936 im sächsischen Nerchau, gefeilt an der strengen Hand ihres Vaters, tanzten sie zuerst im Kinderballett der Leipziger Oper. Mit 16 flohen sie aus der DDR in den Westen – der mutigste Schritt ihres Lebens, getragen von dem unbedingten Willen zur Freiheit. In Düsseldorf mussten sie sich durchschlagen, in Paris wurde aus Talent Glamour. Mit 18 am Lido engagiert, avancierten sie zu internationalen Sensationen eines Europas im Wiederaufbruch. Sie zeigten Bein, als man das noch gewagt nennen musste. Sie gingen auf Welttournee, bevor Deutschland sich überhaupt im eigenen Spiegel ansah. Die USA, Frankreich, Italien – überall wurden die Kesslers gefeiert wie Botschafterinnen einer neuen Leichtigkeit.

Über sechs Jahrzehnte hinweg tanzten, sangen und spielten sie neben Fred Astaire, Frank Sinatra, Harry Belafonte. Und doch wirkten sie nie abgehoben. Disziplin, Dankbarkeit, Demut, Zweisamkeit – so hatten sie einmal ihr Erfolgsgeheimnis zusammengefasst. Ein Kodex, der weniger nach Showbusiness klang als nach Lebenskunst.

Zuletzt lebten sie zurückgezogen in Grünwald. Sie wussten, dass das Alter ihnen die Bühne nahm, aber nicht die Entscheidungsmacht über ihr eigenes Leben. Mitglied bei der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben, wählten sie ihren letzten Tag selbst. Eine Ärztin, ein Jurist waren an ihrer Seite. Keine Dramatik. Kein Aufsehen. Nur Konsequenz.

Es war die letzte, tiefste Form der Zweisamkeit: ein Ende, das keinen von beiden allein ließ. Ihr Wunsch, in einer gemeinsamen Urne bestattet zu werden, schließt nun einen Kreis, der nie offen war.

Alice und Ellen Kessler – zwei Leben, ein Takt. Bis zuletzt.

Hildegard Vera Kaethner: „Die friedliche Revolution wurde vom Westen gekapert“

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Hildegard Vera Kaethner, eine engagierte Diplom-Juristin und Zeitzeugin der friedlichen Revolution in der DDR, hielt am 29. September 2024 im Rahmen der 4. Brandenburger Bürgerrechtskonferenz in Oranienburg einen Vortrag mit dem Titel „Die Ostdeutschen und ihre historisch-sozialen Wurzeln – Die friedliche Revolution wurde vom Westen gekapert: Warum ist die Runde-Tisch-Verfassung 1990 verhindert worden?“. In ihrem Vortrag ging sie der Frage nach, warum die demokratischen Bestrebungen der Bürgerbewegungen der DDR, insbesondere die Verfassung des Runden Tisches, nach der Wende 1990 nicht umgesetzt wurden und wie die historische und soziale Prägung der Ostdeutschen diese Entwicklungen beeinflusste.

Historisch-soziale Prägung der Ostdeutschen
Kaethner begann ihren Vortrag mit einem Überblick über die historisch-sozialen Wurzeln der Ostdeutschen, die im 20. Jahrhundert von zwei autoritären Regimen geprägt wurden: dem Nationalsozialismus und der DDR. Diese beiden Diktaturen hinterließen tiefe Spuren in der kollektiven Identität der Bevölkerung. Nach dem Zweiten Weltkrieg stand die DDR als ein sozialistischer Staat unter sowjetischer Einflussnahme, der versuchte, ein neues Gesellschaftsmodell zu etablieren. Dies beinhaltete eine kollektive Wirtschaft, eine zentral gesteuerte Bürokratie und eine strikte Kontrolle der Meinungsfreiheit.

In den vierzig Jahren der DDR-Erfahrung entwickelte sich eine einzigartige ostdeutsche Identität, die stark von den Bedingungen des real existierenden Sozialismus beeinflusst war. Die Menschen in der DDR mussten sich an ein System anpassen, in dem individuelle Freiheiten stark eingeschränkt waren, aber gleichzeitig ein gewisses Maß an sozialer Sicherheit und wirtschaftlicher Stabilität gewährleistet wurde. Kaethner betonte, dass viele Ostdeutsche in diesem System einen gewissen Stolz und Gemeinschaftssinn entwickelten, obwohl sie sich der politischen Unterdrückung und der systemischen Mängel bewusst waren.

Die Friedliche Revolution: Hoffnung auf einen demokratischen Sozialismus
Im Herbst 1989 kam es zu den friedlichen Massendemonstrationen, die letztlich zum Zusammenbruch der DDR führten. Kaethner erinnerte daran, dass diese Revolution von den Bürgern der DDR selbst initiiert wurde und dass die Bürgerbewegungen, darunter das Neue Forum, das sie selbst unterstützte, sich für eine Reform des Systems starkmachten. Viele Menschen in der DDR wollten keinen radikalen Bruch mit der Vergangenheit, sondern eine Erneuerung des Sozialismus – einen „dritten Weg“ zwischen dem autoritären Staatssozialismus der DDR und dem kapitalistischen System des Westens.

Ein zentraler Punkt dieser Bemühungen war der „Runde Tisch“, ein Gremium, das im Dezember 1989 gegründet wurde und in dem Vertreter der Bürgerbewegungen, der Kirchen und der alten DDR-Regierung gemeinsam über die Zukunft des Landes berieten. Der Runde Tisch war ein Symbol für den Versuch, die politische Zukunft der DDR demokratisch und friedlich zu gestalten. Ein zentrales Ergebnis dieser Beratungen war der Entwurf einer neuen Verfassung für die DDR, die demokratische Grundrechte und soziale Gerechtigkeit in den Vordergrund stellte.

Die Runde-Tisch-Verfassung: Ein Projekt des Volkes
Kaethner erläuterte, dass der Entwurf der Runde-Tisch-Verfassung eine breite gesellschaftliche Unterstützung genoss. Er stellte eine ausgewogene Mischung aus demokratischen Prinzipien und sozialer Sicherheit dar, die viele Menschen in der DDR als eine Möglichkeit sahen, das Beste aus beiden Welten zu vereinen. Die Verfassung enthielt unter anderem die Garantie auf Meinungsfreiheit, freie Wahlen und eine unabhängige Justiz, aber auch soziale Rechte wie das Recht auf Arbeit, Bildung und Wohnung. Diese Kombination aus individuellen Freiheiten und sozialen Rechten reflektierte die Sehnsüchte vieler Ostdeutscher nach einem reformierten Sozialismus, der die Fehler der alten DDR korrigieren, aber die Errungenschaften wie soziale Sicherheit und Solidarität bewahren sollte.

Die Bürgerbewegungen und viele Menschen in der DDR sahen in der neuen Verfassung die Chance, die DDR zu einem demokratischen Staat zu machen, der seine sozialen Wurzeln bewahrte. Kaethner betonte, dass diese Verfassung Ausdruck eines tiefen Wunsches nach Selbstbestimmung und sozialer Gerechtigkeit war, der in der friedlichen Revolution zum Ausdruck kam.

Die Wende: Wie der Westen die friedliche Revolution übernahm
Trotz der Hoffnungen der Bürgerbewegungen auf eine eigenständige Entwicklung der DDR verlief die Wende anders als erwartet. Mit der Öffnung der Mauer und dem zunehmenden Druck auf die DDR-Regierung beschleunigte sich der Prozess der Wiedervereinigung. Kaethner stellte heraus, dass der Westen – vor allem die Bundesrepublik Deutschland – die Initiative übernahm und die Verhandlungen dominierte, was schließlich zur Wiedervereinigung Deutschlands unter westlichen Bedingungen führte.

Ein entscheidender Punkt, den Kaethner in ihrem Vortrag hervorhob, war die Verhinderung der Runde-Tisch-Verfassung. Trotz der breiten Unterstützung wurde dieser Verfassungsentwurf nicht umgesetzt. Stattdessen wurde das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland auf die ehemaligen DDR-Gebiete übertragen. Kaethner kritisierte diesen Prozess scharf und bezeichnete ihn als „Kaperung“ der friedlichen Revolution durch den Westen. Sie argumentierte, dass die Interessen der Bürgerbewegungen und der ostdeutschen Bevölkerung zugunsten der westdeutschen Eliten geopfert wurden.

Kaethner erläuterte, dass der Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes über den Artikel 23 des Grundgesetzes abgewickelt wurde. Dies bedeutete, dass die DDR keine eigenständige Verfassung erhielt und dass die von der Bevölkerung geforderte soziale Erneuerung nicht stattfand. Die schnelle Wiedervereinigung und die Einführung der westlichen Marktwirtschaft führten dazu, dass viele Ostdeutsche sich in der neuen Gesellschaft entwurzelt fühlten. Viele der sozialen Sicherheiten, die es in der DDR gegeben hatte, wurden abgeschafft, und die Menschen mussten sich an die neuen kapitalistischen Verhältnisse anpassen.

Die Folgen der verhinderten Verfassung
Kaethner argumentierte, dass die Nicht-Umsetzung der Runde-Tisch-Verfassung langfristige negative Auswirkungen auf die ostdeutsche Gesellschaft hatte. Sie sprach von einem Gefühl des Verrats, das viele Ostdeutsche empfanden, da ihre Forderungen nach einer gerechten und sozialen Gesellschaft ignoriert wurden. Dies führte zu einer tiefen Enttäuschung und einem bis heute anhaltenden Gefühl der Benachteiligung im wiedervereinigten Deutschland.

Kaethner betonte, dass der Verlust der sozialen Sicherheiten und die schnelle Einführung der Marktwirtschaft viele Ostdeutsche in eine wirtschaftliche und soziale Unsicherheit stürzte. Hohe Arbeitslosigkeit, der Niedergang der Industrie und der damit einhergehende Verlust von Gemeinschaftsstrukturen prägten die 1990er Jahre in Ostdeutschland. Viele Menschen fühlten sich von der Politik im Westen im Stich gelassen und hatten das Gefühl, dass die Wiedervereinigung nicht im Interesse der Ostdeutschen ablief, sondern vor allem dem Westen nützte.

Fazit: Eine vertane Chance
Abschließend betonte Kaethner, dass die Verhinderung der Runde-Tisch-Verfassung eine vertane Chance war, die Zukunft Deutschlands auf eine breitere, sozial gerechtere Grundlage zu stellen. Sie plädierte dafür, die historischen Fehler der Wiedervereinigung offen anzusprechen und die Anliegen der Ostdeutschen stärker in den politischen Diskurs einzubinden. Kaethner rief dazu auf, die Lehren aus der friedlichen Revolution zu bewahren und die Werte von Freiheit, Demokratie und sozialer Gerechtigkeit, für die die Bürgerbewegungen gekämpft hatten, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

Kaethners Vortrag auf der Brandenburger Bürgerrechtskonferenz war ein eindringlicher Appell, die Geschichte der Wendezeit differenziert zu betrachten und die Rolle der Ostdeutschen in diesem Prozess zu würdigen. Sie erinnerte daran, dass die friedliche Revolution von den Menschen in der DDR ausging und dass ihre Forderungen nach einer gerechteren Gesellschaft auch heute noch von Bedeutung sind.

Wie der wichtigste Dramatiker der DDR das System austrickste

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Es gibt diese Geschichten aus der DDR-Kulturszene, die wirken, als kämen sie aus einem Paralleluniversum – und doch beschreiben sie präzise den Alltag jener Künstler, die zwischen Macht, Misstrauen und erstaunlicher Findigkeit navigierten. Einer von ihnen war Reimund Heiner Müller, der unter dem Pseudonym Max Messer begann und später zu einer der wichtigsten literarischen Stimmen der DDR wurde. Ein Mann, der mehr als 35 Bühnenwerke hinterließ, Büchner-Preisträger, Präsident der Akademie der Künste, aber eben auch jemand, der früh erlebte, wie eng die Leine in einem gut vermessenen Staat gezogen war.

Sein Weg durch das System zeigte die Widersprüche des Landes wie unter einem Brennglas: 1947 trat er in die SED ein, arbeitete ab 1951 journalistisch in Berlin, wurde nach der Studentenaufführung Die Umsiedlerin aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Es sind biografische Daten, die sich lesen wie Koordinaten eines politischen Seismogramms. Wo Müller auftauchte, bebte etwas. Wo er schwieg, las man zwischen den Zeilen. Und wo man ihn kontrollieren wollte, fand er Umwege.

Denn wer in der DDR Kunst machen wollte, musste mehr beherrschen als Drama und Dialog. Man musste ein Meister der Gesprächsführung sein. Ein Künstler musste wissen, wann er sprach – und noch viel wichtiger: wann er schwieg. Mit Parteifunktionären wurde es im Laufe der Jahre schwieriger; sie lebten in ideologischen Echokammern, unfähig, Realität zu erkennen. Ausgerechnet die Stasi-Offiziere, jene Männer, die Müller seit 1961 beobachteten, waren oft die nüchterneren Gesprächspartner. Nicht, weil sie Verbündete waren, sondern weil sie die Lage des Landes präziser kannten als die Funktionäre, die es führten.

Es war ein bizarrer Pragmatismus: Man konnte mit jenen reden, die einen als „potenziellen Feind“ einstuften – und nicht mit denen, die offiziell Kultur lenkten. Müller wusste das. Er kannte die Codes, die Fallen, die Leerstellen. Die Stasi wiederum sah in ihm einen „Kristallisationspunkt“, einen Ort, zu dem die jungen Leute strömten. Sie wollten ihn kontrollieren, aber nicht verlieren. Nähe als Mittel der Überwachung – und der Einflussnahme.

Und trotzdem: Die Kunst fand Wege. Stücke lagen zwölf Jahre in Schubladen, bis die politische Temperatur stimmte. Buchausgaben durften in der DDR nicht beworben werden, erschienen aber im Westen. Müller arbeitete am Deutschen Theater mit Benno Besson, war Dramaturg an der Volksbühne, wurde 1984 Mitglied der Akademie der Künste, 1985 mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet – ein ostdeutscher Weltkünstler, der stets unter Beobachtung stand und dennoch eine Sprache entwickelte, die über Grenzen ging.

Vielleicht liegt darin das eigentliche Vermächtnis von Heiner Müller, der am 30. Dezember 1995 in Berlin starb: Dass große Kunst selbst im engsten Raster Wege findet. Dass Kreativität manchmal genau dort am stärksten wird, wo sie am wenigsten Platz hat. Und dass jene Räume zwischen zwei Sätzen, zwischen Schweigen und Sprechen, größer sein können als jede Bühne, auf der ein Stück schließlich erscheint.

Die DDR läuft sich leer! Täglich 8.000 Menschen auf der Flucht

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343.854 – das ist die Zahl, mit der die DDR implodierte. Kein Schuss, kein Aufstand, kein Beschluss des Politbüros brachte den Staat zu Fall, sondern das Gehen seiner Bürger. 343.854 Menschen verließen 1989 die DDR in Richtung Bundesrepublik – die höchste Zahl in der 40-jährigen Geschichte des Landes. Ein Exodus, der das System nicht nur politisch, sondern physisch aushöhlte.

Bis zum 6. November hatten bereits 202.895 Bürger das Land verlassen. Über 25.000 flohen über Ungarn und Österreich, weitere 12.000 über die Botschaften in Prag und Warschau, und 8.270 in einer zweiten Welle Anfang Oktober. Als Anfang November die Grenze zur ČSSR geöffnet wurde, setzte eine letzte Flutbewegung ein: 62.500 Menschen verließen zwischen dem 6. und 9. November die DDR – mehr als 8.000 pro Tag.

Nach dem Mauerfall riss die Bewegung nicht ab. In der ersten Woche gingen täglich 8.000, in der zweiten Hälfte des Monats immer noch 3.000. Zwischen dem 9. und 21. November registrierte das Bundesinnenministerium 79.013 Übersiedler. Und dann kam der Dezember: 43.221 weitere verließen die DDR – nicht mehr aus Angst, sondern aus Gewissheit, dass es keine Zukunft mehr gab.

Doch selbst das war kein Ende. Bis Mitte März 1990 verließen weiterhin über 10.000 Menschen pro Woche das Land. Hätte sich dieses Tempo gehalten, wären 720.000 allein im Jahr 1990 gegangen. Das führte bereits im Winter 1989/90 zu einer akuten Notlage: leere Krankensäle, fehlende Ärzte, stillstehende Maschinen. Der Sozialismus blutete aus – durch offene Grenzen.

Diese Zahlen sind mehr als Statistik. Sie sind die stille Chronik eines Staates, dem seine Bürger davongingen, weil er sie nicht mehr hielt. Keine Parolen, keine Panzer – nur Menschen, die gingen. Es war die ehrlichste Form der Abstimmung: mit den Füßen. Der Sozialismus wurde nicht gestürzt – er wurde verlassen.

Und vielleicht liegt darin die bittere Wahrheit von 1989: Freiheit kam nicht durch Revolution, sondern durch Fortgang. Und die Zahl 343.854 steht dafür wie ein Grabstein – kühl, sachlich, unwiderlegbar.

DDR-Bürgerrechtler – „Ich kann damit leben, was ich getan habe.“

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Die Bilder der friedlichen Revolution von 1989 sind Teil des kollektiven Gedächtnisses: Menschen auf der Mauer, die für Freiheit und Demokratie auf die Straße gehen. Doch was geschah mit den zentralen Akteuren dieses historischen Moments, den Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtlern? Ihre Wege nach der Wiedervereinigung waren komplexer, schmerzhafter und überraschender, als es die idealisierte Rückschau oft vermuten lässt.

Die überraschende Wahrheit. Viele wollten die DDR reformieren, nicht abschaffen. Dies offenbart ein grundlegendes, im Westen oft übersehenes Paradoxon der friedlichen Revolution: Viele ihrer Architekten wollten ihre Heimat retten, nicht sie auflösen. Für die Aktivisten der ersten Stunde war das primäre Ziel nicht die deutsche Einheit, sondern die Schaffung einer offeneren, besseren DDR. Sie wollten, wie Antje Hermenau es beschrieb, „das Beste von beiden“ Systemen nehmen und etwas Neues schaffen. Ihr Verfassungsentwurf vom Runden Tisch enthielt visionäre Ideen wie die Verankerung des Rechts auf Wohnen und des Rechts auf Arbeit.

Die brutale Realität dieser Niederlage offenbarte sich am Wahlabend des 18.März 1990: Die vereinigten Bürgerbewegungen, die die Revolution getragen hatten, erhielten gerade einmal 5 Prozent der Stimmen. „Das große Thema Demokratie wurde abgelöst von dem großen Thema deutsche Einheit“, was bei vielen das Gefühl hinterließ, um die Früchte ihrer Revolution betrogen worden zu sein.
Der Schriftsteller Volker Braun fasste dieses Gefühl des Verlusts im August 1990 in Worte: „Was ich niemals besaß, wird mir entrissen. Was ich nicht lebte, werde ich ewig missen. Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle.“ Diese Perspektive ist entscheidend, um die anschließende Enttäuschung zu verstehen.

Vom Burnout bis zum politischen Rückzug. Der schnelle Verlust dieser Gründungsideale im Sog der Wiedervereinigung führte nicht nur zu politischer Enttäuschung, sondern stürzte viele Aktivisten in eine Form von Sisyphusarbeit, die einen immensen persönlichen Tribut forderte. Das unermüdliche Engagement war nicht nur ein Kampf in politischen Gremien, sondern auch ein Ringen mit den Folgen eines kollabierenden Systems.

Die sogenannten „Umbruchjahre“ waren für viele in Wahrheit „Zusammenbrüche“, wie es Matthias Platzeck formulierte. Es war eine Zeit, in der Menschen ihren „eigenen Betrieb abzureißen“ hatten und zwei Millionen junge Leute den Osten verließen.

Dieser gesellschaftliche Druck hinterließ tiefe persönliche Spuren. Platzeck selbst erlitt einen Hörsturz und später einen Schlaganfall. Antje Hermenau litt unter Magengeschwüren und zermürbenden Machtkämpfen. Diese Geschichten korrigieren das idealisierte Bild des Aktivismus und zeigen die menschliche Dimension hinter den Kulissen. Als Matthias Platzeck nach seinem Schlaganfall im Krankenhaus lag, sagte seine Tochter einen Satz, der die Realität auf den Punkt brachte: „wenn du es jetzt nicht merkst dann weiß ich nicht wann du es merkst“.

Warum aus einstigen Verbündeten politische Gegner wurden. Die Opposition in der DDR war nie ein homogener Block, und nach 1990 traten diese Unterschiede umso deutlicher zutage. Während Katrin Göring-Eckardt eine beständige Karriere in der Bundespolitik machte, zog sich Antje Hermenau desillusioniert zurück und begründete ihren Abschied aus der Politik mit der scharfen Frage: „was soll ich denn als 50-jährige mein Leben meine kostbare Lebenszeit mit einem Kindergarten verplempern“.

Andere vollzogen eine radikale Neuorientierung. Vera Lengsfeld, einst bei den Grünen, verließ die Partei wegen des aus ihrer Sicht zu nachgiebigen Umgangs mit der PDS. Ihr Austritt war kein Einzelfall, sondern Teil eines größeren Exodus von sieben prominenten Bürgerrechtlern. Später trat sie wegen Angela Merkels Migrationspolitik aus der CDU aus und kritisiert heute den „politischen Mainstream“ in rechtskonservativen Medien.

War dieser Zerfall unausweichlich, ein bloßes Symptom der neu gewonnenen Pluralität, oder zeugt er von einem tieferen Scheitern, die vielfältigen oppositionellen Strömungen in einer gemeinsamen demokratischen Vision zu bündeln?

Diese ideologische Zersplitterung der einstigen Oppositionsbewegung erklärt auch die fundamental unterschiedlichen Diagnosen und Lösungsansätze für die gesellschaftlichen Krisen der Gegenwart. Angesichts der Polarisierung und des Erstarkens der AfD sehen einige den Kern ihrer Arbeit von 1989 erneut in Gefahr.
Frank Richter, der als Direktor der sächsischen Landeszentrale für politische Bildung den Dialog mit PEGIDA-Anhängern suchte, was ihm den Vorwurf einbrachte, ein „Pegida-Versteher“ zu sein, kämpft heute als SPD-Politiker gegen die gesellschaftliche Spaltung.

Dabei entbehrt es nicht einer Ironie, dass die Sorgen vieler Ostdeutscher im Westen erst dann ernsthaft Gehör fanden, „als die AfD immer bessere Umfragewerte hatte“, wie Matthias Platzeck feststellt. Er analysiert, dass es versäumt wurde, den Ostdeutschen „Haltegriffe“ zu geben, das Gefühl, „ihr habt euer Leben auch nicht umsonst gelebt“. Die Dringlichkeit des neuen Kampfes bringt Frank Richter mit einem eindringlichen Appell auf den Punkt: Ich habe keine Angst vor der Überfremdung von außen ich habe Angst vor der Entmenschlichung von innen.

Sie waren nach 1989 vielfältiger, dornenreicher und von tieferen Brüchen gezeichnet, als das aktuelle Gedächtnis der Gesellschaft es wahrhaben will. Doch ihr zentrales Anliegen – das Ringen um eine offene, demokratische Gesellschaft – bleibt 35 Jahre nach dem Mauerfall von brennender Aktualität. Ihre Geschichte wirft eine Frage auf, die heute vielleicht wichtiger ist denn je. Was bedeutet es, die Haltung der Bürgerrechtler weiterzutragen und sich, wie Matthias Platzeck es formuliert, abends sagen zu können: „Ich kann damit leben, was ich getan habe“?

Tamara Danz – Die Stimme, die den Osten wachküsste

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Es gab in der DDR viele Stimmen, aber nur wenige hatten die Kraft, das Schweigen zu brechen. Tamara Danz war eine davon. Mit ihrer Band Silly sang sie sich nicht nur in die Hitlisten, sondern in die Herzen all jener, die zwischen Anpassung und Aufbruch lebten. Ihre rauchige Stimme, ihre kompromisslose Haltung und ihr unerschütterlicher Sinn für Gerechtigkeit machten sie zur Verkörperung eines anderen, mutigeren Ostens.

Tamara Danz war keine Heldin im klassischen Sinn, sondern eine, die einfach nicht anders konnte. Aufgewachsen in einem Diplomatenhaushalt, lernte sie früh die Sprache der Macht – und entschied sich, eine andere zu sprechen. Nach dem Prager Frühling 1968 brach sie mit der Ideologie, die ihr vermittelt worden war. Sie verließ den Oktoberclub, den FDJ-Vorzeigechor, weil sie keine Parolen singen wollte. Stattdessen schrieb sie ihre eigene Partitur – voller Zweifel, Stolz und Widerstand.

Mit Silly wurde sie zur Ikone der 1980er Jahre. Alben wie Mont Klamott oder Zwischen unbefahrenen Gleisen erzählten vom Alltag im Sozialismus – poetisch, verschlüsselt, gefährlich nah an der Wahrheit. Die Fans lasen zwischen den Zeilen, was nicht gesagt werden durfte. Wenn Danz sang: „Alles wird besser, nichts wird gut“, verstand jeder, was gemeint war. Zensur war für sie keine Mauer, sondern ein kreativer Gegner. Lieder wurden verboten, umbenannt, gestrichen – und doch fanden sie ihren Weg ins Publikum.

Als die DDR in den letzten Zügen lag, wurde ihre Musik politischer, direkter. Das Album Februar erschien 1989 – ein Werk voller Vorahnungen, voller Mut. „Verlorene Kinder“ klang wie eine Botschaft an ein Land im Aufbruch. Und als im Herbst 1989 die Straßen bebten, stand Tamara Danz mit anderen Musikerinnen in der Berliner Erlöserkirche auf der Bühne – ein Benefizkonzert für die Opfer staatlicher Gewalt. Sie hatte keine Angst.

Nach der Wende blieb sie unbequem. Sie sang gegen Brandanschläge und Hass, kämpfte für eine kulturelle Eigenständigkeit des Ostens, produzierte Hurensöhne in Eigenregie, weil westdeutsche Labels ihre Texte für „nicht verkäuflich“ hielten.

Tamara Danz starb 1996, viel zu früh. Aber sie hinterließ etwas, das keine Zensur und kein Markt verdrängen kann: das Gefühl, dass Musik Haltung haben darf – und dass eine Frau den Ton angeben kann, auch wenn es unbequem wird.

„Wo die Lieder sterben, da sterbe auch ich.“
Ein Satz, der bleibt. Und eine Stimme, die nie wirklich verstummt ist.

Wo Arbeit in der DDR noch Familie war

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In der DDR nahm die Arbeit in den volkseigenen Betrieben einen Stellenwert ein, der weit über das bloße Erwerbsleben hinausging. Der Betrieb war Identität, sozialer Rückhalt und oft der Mittelpunkt des gesamten Lebens. Viele Beschäftigte empfanden ihre Tätigkeit als Teil eines größeren Ganzen – als Beitrag zum Funktionieren eines Landes, das stark auf Planerfüllung, Kollektivleistung und den Stolz auf die eigene Produktion setzte.

In technischen Schlüsselbetrieben wie Carl Zeiss Jena, Robotron oder der Mikroelektronik in Erfurt trafen hoher Anspruch und ein Gefühl von Elitebewusstsein aufeinander. Wer dort arbeitete, galt als Teil einer technologischen Avantgarde. Die Arbeitsbedingungen reichten von akademisch geprägten Forschungsabteilungen bis zu lauten, belastenden Produktionshallen, in denen improvisiert werden musste, weil Material fehlte oder Maschinen veraltet waren. Das Spannungsfeld zwischen hohem Anspruch und realen Begrenzungen prägte den Alltag vieler Belegschaften.

Doch der Betrieb war nicht nur Arbeitsort, sondern sozialer Raum. Viele Kombinate entwickelten ein dichtes Netz an sozialen Angeboten, das von Werkwohnungen über Betriebskindergärten bis zu Kantinen und eigenen Polikliniken reichte. Manche Großbetriebe – etwa die Leuna-Werke oder die Schwarze Pumpe – wurden zu regelrechten „Städten im Staat“, die mit ihren Ferienheimen, Sportgemeinschaften und Kulturangeboten das gesamte Leben einer Belegschaft strukturierten.

Im Gegenzug bedeutete ein Arbeitsplatz im VEB Sicherheit. Prämien für Planerfüllung, bevorzugte Wohnungsvergabe oder die Aussicht auf einen Ferienplatz an der Ostsee schufen ein System, das Loyalität förderte und soziale Stabilität versprach. Innerhalb der Belegschaften entstand daraus oft ein enges Gemeinschaftsgefühl, geprägt von Kollegialität, gemeinsamen Schichten und dem Bewusstsein, unter nicht immer einfachen Bedingungen ein großes Kollektivprojekt zu tragen.

So wurde die Arbeit im VEB für viele zu einem integralen Bestandteil ihrer Lebenswirklichkeit – zwischen technischem Ehrgeiz, Betriebsgemeinschaft und den sozialen Sicherheiten eines Systems, das die Verbindung von Arbeit und Alltag zur Grundlage seines Selbstverständnisses machte.