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Wie die deutsche Psychiatrie im Nationalsozialismus mitschuldig wurde

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Die Geschichte der deutschen Psychiatrie im Dritten Reich ist ein schmerzhaftes Kapitel, das von ideologischer Verblendung, grausamen Verbrechen und einer erschreckenden Verstrickung medizinischer Fachkräfte in die NS-Vernichtungspolitik geprägt ist. Anders als oft angenommen, wurde die Psychiatrie nicht lediglich von den Nationalsozialisten missbraucht; sie brauchte die Nazis, um lange gehegte Forderungen nach „Sichtung und Vernichtung lebensunwerten Lebens“ umzusetzen.

Die Wurzeln der Ideologie: „Lebensunwertes Leben“
Die Vorstellung, dass manche Menschen als „Ballast-Existenzen ohne Gemeinschaftswert“ gelten und ihr Leben als „lebensunwert“ anzusehen sei, war keine Erfindung der Nazis. Bereits lange vor 1933 forderten „ehrbare Professoren“ die Vernichtung „lebensunwerten Lebens“. Prominente Psychiater wie der deutsche Psychiatrie-Papst Emil Kraepelin beklagten 1909, dass die Fürsorge die „geistig Minderwertigen am Leben lassen“ und die „Tüchtigen im Kampf ums Dasein“ schädige. Anstaltsleiter wie Hermann Simon erklärten 1931, es werde „wieder gestorben werden müssen“. Diese vor-nazistische Denkart ebnete den Weg für die späteren Gräueltaten.

Von der Sterilisierung zur Massenvernichtung
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten begann 1933 die „wissenschaftlich völlig unsinnige Massensterilisierung“ angeblich erbkranker Menschen. Die ersten Opfer waren Bewohner von Anstalten und deren Angehörige, gefolgt von Hilfsschülern, Blinden, Tauben, „Soziallästigen“ und schließlich politischen Gegnern. Insgesamt wurden etwa 400.000 Menschen zwangssterilisiert, viele von ihnen für ihr ganzes Leben ruiniert. Prominente Mediziner wie Geheimrat Professor Karl Bonhoeffer, Direktor der psychiatrischen und Nervenklinik der Charité, traten für die „Ausmerzung des Schwachsinns“ ein und arbeiteten als Gutachter für Sterilisierungsgerichte.

Der Übergang von der Sterilisierung zur direkten Tötung erfolgte im Sommer 1939, als Nazi-Funktionäre, Psychiatrie-Direktoren und Professoren die Tötung der Geisteskranken und Behinderten durch Giftgas berieten. Ins Gas sollten alle, die seit fünf Jahren in Anstalten untergebracht waren, sowie jene, die in Anstaltsbetrieben nicht oder nur mit mechanischen Arbeiten zu beschäftigen waren. Die Psychiater sahen darin eine Gelegenheit, die „Unproduktiven und Unheilbaren“ zu beseitigen – diejenigen, die ihnen „tagtäglich ihr Unvermögen, nicht teilen zu können, vor Augen führen“.

Die Tötungsanstalten und die Rolle der Ärzte
Die „Endlösung“ – die Massenvernichtung durch Giftgas – begann in Posen, genauer gesagt im Fort 7, einer ehemaligen preußischen Befestigungsanlage, die als Konzentrationslager und Hinrichtungsstätte genutzt wurde. Im Herbst 1939 wurde hier erstmals Giftgas an Menschen erprobt, an polnischen und jüdischen Patienten.

In Deutschland wurden sechs Vergasungsanstalten eingerichtet, darunter Bernburg, Brandenburg an der Havel und Schloss Hartheim. Allein in Bernburg wurden 1940/41 exakt 70.273 Kranke und Behinderte in Gaskammern ermordet. Opfer wie Elvira Manthey, die als Kind die Diagnose „angeborener Schwachsinn“ erhielt, wurden 1940 zur Vergasung aus Uchtspringe abtransportiert. Elvira Manthey war noch keine sieben Jahre alt, als sie 1938 in die Anstalt kam, weil ihr Vater „arbeitsscheu“ und dies als erblich galt – sie wurde als „erbfolglich“ bezeichnet. Ihre jüngere Schwester Lisa wurde 1940 einen Tag vor ihrem fünften Geburtstag abtransportiert und in Brandenburg vergast. Elvira Manthey ist heute die einzige Überlebende von insgesamt 70.000 Abtransportierten.

Die Anstaltsärzte und Professoren feierten die Ermordung der Unheilbaren als „Höhepunkt der Psychiatrie-Geschichte“. Auf Konferenzen herrschte eine „berauschende Gehobenheit“. Es gab sogar einen regelrechten „Vergasungstourismus“, bei dem Ärzte die Vergasung von Frauentransporten begafften. Paul Nitsche, ein Psychiatrie-Professor, äußerte: „Es ist doch herrlich, wenn wir in den Anstalten den Ballast loswerden und nun wirklich richtige Therapie treiben können“. Als „richtige Therapie“ galten dabei Insulin- und Elektroschocks, die oft schwere Knochenbrüche oder lebensgefährliche Wirbelverletzungen verursachten.

Der unerträgliche Forschungshunger: Kinder als Versuchsobjekte
Besonders grausam war die gezielte Ermordung von Kindern. Zahlreiche „Kindermordabteilungen“, oft von Ärztinnen geleitet, wurden eingerichtet. Hier konnten Mediziner Kinder und Jugendliche ohne Tabus testen, befragen, töten und sezieren. Die Nazizeit bot den Ärzten die „einmalige Gelegenheit, sich Patienten bestellen und sich ihre Gehirne bedienen zu können“. Kinder wie Valentina Zachernie dienten als „lebendes Hirnforschungsmodell“ und wurden getötet, damit ihre Gehirne seziert und in Lehrbüchern abgebildet werden konnten. Andere Kinder wurden wie „Labortiere zu Forschungszwecken verbraucht“. Dr. Georg Hensel, ein Allgäuer Arzt, infizierte Kinder in Kaufbeuren zu Studienzwecken mit Tuberkulose. Den Kindern wurde vor ihrer Tötung oft Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit entzogen und stattdessen Luft eingeblasen – ein schmerzhafter Eingriff, an dem viele starben.

Trotz der Verbrechen behaupteten die Täter nach dem Krieg, sie hätten „wahre Monster von einem Dasein ohne Leben erlöst“. Kinderarzt Dr. Wilhelm Baier verteidigte sich damit, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit nur gegen Menschen begangen werden könnten, und die „Lebewesen“, die zur Behandlung standen, nicht als Menschen zu bezeichnen seien.

Die Nachkriegszeit: Vertuschung und mangelnde Aufarbeitung
Das Sterben in den Anstalten hörte nicht mit dem Ende des Krieges auf. In vielen Einrichtungen, wie der Karl Bonhoeffer Nervenklinik in Berlin-Wittenau, Schloss Hoym oder Teupitz, stieg die Sterblichkeit nach der Befreiung sogar drastisch an, da Patienten verhungerten, während das Personal Lebensmittel unterschlug.

Erschütternd ist auch die mangelnde juristische und moralische Aufarbeitung nach 1945. Viele der Täter setzten ihre Karrieren fort, oft sogar in leitenden Positionen und erhielten Auszeichnungen. Beispielsweise wurde Professor Berthold Ostertag, der an der Sektion von Valentina Zachernie beteiligt war, nach 1945 Leiter der Neuropathologie der Uni-Nervenklinik Tübingen und erhielt das Große Bundesverdienstkreuz. Dr. Elisabeth Hecker, verantwortlich für Kinder-Euthanasie in Lubliniec, wurde nach 1945 Leiterin der Jugendpsychiatrie in Hamm und bekam das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse. Diese Fortsetzung der Karrieren zeigt die tiefe Verankerung der Ideologie und die mangelnde Bereitschaft zur echten Aufarbeitung. Tragischerweise wurden die als „lebensunwert“ erklärten, sterilisierten und ermordeten Opfer nie als NS-Verfolgte anerkannt.

Elvira Manthey, die das Grauen der Anstalt Uchtspringe überlebte, ringt noch heute mit den Erlebnissen: „Es war sehr schwer mit solchen Erlebnissen weiterzuleben und ich musste schweigen und musste das in mir verarbeiten, aber ich habe es bis heute noch nicht verarbeitet“. Sie versuchte sogar, sich das Leben zu nehmen, weil sie es „einfach nicht mehr tragen konnte“.

Die Geschichte der deutschen Psychiatrie im Dritten Reich ist ein mahnendes Beispiel dafür, wie eine vermeintlich fortschrittliche Wissenschaft zu einem Instrument der Vernichtung werden kann, wenn sie moralische Grenzen überschreitet und sich in den Dienst einer menschenverachtenden Ideologie stellt. Es ist eine dunkle Erinnerung daran, dass der Mantel der Wissenschaft die Gräueltaten nicht verdecken darf, und dass eine tiefe Aufarbeitung der Vergangenheit entscheidend ist, um sicherzustellen, dass sich solche Abscheulichkeiten niemals wiederholen.

Man könnte sagen, die psychiatrischen Anstalten im Dritten Reich waren wie düstere Theaterbühnen, auf denen die Täter ihre tödlichen Ideologien aufführten, während die Patienten nicht als Schauspieler, sondern als stumme Requisiten dienten, deren Leben und Leiden für die perfide Inszenierung von „Rassenhygiene“ und „Ausmerzung“ verbraucht wurden. Das Publikum? Die Gesellschaft, die oft wegsehen oder applaudieren wollte.

Wie Wilhelm und Henrich Focke die deutsche Luftfahrtgeschichte prägten

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Die deutsche Luftfahrtgeschichte begann nicht in weit entfernten Laboren oder prestigeträchtigen Ingenieurschulen, sondern am Weserdeich in Bremen, mit den bescheidenen, aber kühnen „kleinen Hüpfern“ zweier Brüder: Wilhelm und Henrich Focke. Sie waren Pioniere, deren unterschiedliche Naturen sich ideal ergänzten und die gemeinsam – und manchmal auch getrennt – die Luftfahrt revolutionierten.

Wilhelm Focke: Der träumerische Visionär und Künstler
Wilhelm Focke, der ältere der beiden Brüder, war die treibende Kraft und ein sprudelnder Quell an Ideen. Schon früh zog es ihn in die Luft. Wie viele angehende Flugtechniker seiner Zeit begann er mit Gleitflügen, die mitunter gefährlich waren, aber das Gefühl des Getragenseins in der Luft vermittelten. Sein schöpferischer, künstlerischer Geist war es, der immer wieder sagte: „Wir müssen das schaffen, wir werden fliegen, das muss gehen!“.

Wilhelm war ein genialer Naturbeobachter, der die Dynamik und Kräfte der Natur aus dem Bauch heraus fühlen und in Zeichnungen umsetzen konnte. Ob Segeln, Strandroller oder Fliegen – die Schönheit der Linien und die zugrundeliegende Dynamik faszinierte ihn. Sein erstes großes Ziel war das Fliegen, und die „Ente“ war sein erster Erfolg. Dieser einzigartige Flugzeugtyp, von der Firma Rumpler gebaut und mit dem Geld eines Freundes finanziert, machte im Herbst 1909 auf dem berühmten Bornstedter Feld seinen Jungfernflug. Das Telegramm von diesem Flug – „Bin heute erstmalig geflogen! Endlich ist famos. Hundert Meter weit, sieben Meter hoch“ – erreichte die Familie zu einem Zeitpunkt, als Henrich gerade zum Abitur gehen wollte. Für den Vater der Brüder, Johann Focke, war das Fliegen jedoch eine unnötige Träumerei, und er legte Wert auf eine „richtige Ausbildung“.

Trotz seiner Leidenschaft für die Technik war Wilhelm in erster Linie Künstler. Gegen den Rat des Vaters studierte er Malerei in Düsseldorf, München und Berlin. Er verkaufte seine Bilder sehr früh gut, obwohl ihm finanzieller Erfolg unwichtig war. Er pendelte zwischen Berlin und Bremen und verbrachte viel Zeit an der Wümme, seinem liebsten Ort zum Malen. Selbst in den 20er-Jahren übernahm er einen Lehrauftrag an der Kunstgewerbeschule, wo er Akt- und Landschaftsmalerei unterrichtete, am liebsten in der Natur. Wilhelm hatte seinen Stil gefunden: naturverbunden, kraftvoll, farbenreich und auf Bewegung ausgerichtet.

Abseits der Malerei sprudelten Wilhelms Ideen weiter. Ganz nebenbei konstruierte er innovative Geräte wie den Strandsegler, der damals nirgendwo auf der Welt existierte und Geschwindigkeiten von bis zu 80 Stundenkilometern erreichen konnte. Auch Eissegler für die winterliche Wümme entwickelte er. Obwohl er fantastisch in handwerklichen Dingen war, fehlte ihm das Geschick, seine Erfindungen oder seine Kunst zu vermarkten. Er war stets auf die Hilfe anderer angewiesen, um damit Geld zu verdienen.

Wilhelms Privatleben wurde in der Familie weitgehend ausgeklammert; seine Homosexualität wurde stillschweigend akzeptiert. Die Zeit des Dritten Reiches war für ihn besonders schwierig. Als bekannter Künstler mit einer kritischen Haltung erhielt er ein Ausstellungsverbot. Er verbrachte viel Zeit im Verborgenen auf seiner Insel, um dem Druck zu entgehen. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg hatte er es schwer, sich als Künstler zu ernähren, verkaufte kaum Bilder und erhielt nur eine sehr geringe staatliche Unterstützung. Doch seine Lebensgeister blieben ungebrochen, und er fand trotz aller Widrigkeiten in hohem Alter, ab etwa 70 Jahren, eine tiefe innere Zufriedenheit mit seinem Leben und seinen Errungenschaften.

Henrich Focke: Der präzise Konstrukteur und Ingenieur
Henrich Focke, Wilhelms jüngerer Bruder, bewunderte dessen Genialität und hatte die Fähigkeit, Wilhelms Ideen in die Realität umzusetzen, insbesondere durch sein Studium. Er war die nötige Ergänzung zu Wilhelms Visionen, derjenige, der das Systematische umsetzte. Ihm war es wichtig, mit einfachen Mitteln zu arbeiten, da sie nicht viel Geld hatten.

Nachdem Wilhelm mit seiner „Ente“ Erfolge erzielt hatte, zog es Henrich nach Berlin zu seinem großen Vorbild. Die Brüder bauten ihren ersten Flugzeugschuppen in Bremen am Neuenlander Feld, dem heutigen Standort des Bremer Flughafens, und experimentierten mit einem geschenkten 8-PS-Rennradmotor und einem selbstgehobelten Propeller.

Henrichs Karriere als Flugzeugkonstrukteur nahm schnell Fahrt auf. Gemeinsam mit Georg Wulf gründete er die Focke-Wulf Flugzeugbau AG. Hier legte Henrich die Grundlagen des Flugzeugbaus, insbesondere die Beherrschung von Aerodynamik und Lasten. Ihre erste große Konstruktion war die „Möwe“, ein kleines Passagierflugzeug, das als das sicherste und wirtschaftlichste Verkehrsflugzeug seiner Zeit galt, vor allem dank seiner hervorragenden Tragflächen-Aerodynamik. Henrich erwies sich als überragender Konstrukteur, für den Verlässlichkeit und absolute Sicherheit oberste Priorität hatten. Tragischerweise kam sein Partner Georg Wulf 1927 bei einem Testflug ums Leben.

Mit Beginn der 30er-Jahre gerieten Flugzeugfabriken ins Visier nationalsozialistischer Bestrebungen. Henrich wollte keine Flugzeuge als Kriegsgerät bauen, musste aber mit ansehen, wie der Vorstand seiner Aktiengesellschaft den neuen Machthabern Platz einräumte. Er wurde zwar NSDAP-Mitglied, konzentrierte sich aber auf Zivilsachen und insbesondere auf ein neues, visionäres Ziel: die Entwicklung des Hubschraubers, den Senkrechtstarter.

Henrich Focke war weltweit allen anderen voraus. 1936 landete der berühmte Flieger Charles Lindbergh auf dem Neuenlander Feld, um Fockes neueste Entwicklung zu bestaunen: die FW 61, den weltweit ersten flug- und vor allem lenkfähigen Hubschrauber. Henrich hatte damit den Wettlauf gegen Igor Sikorsky in den USA gewonnen, auch wenn die Propaganda in Deutschland Sikorsky später oft als den Ersten darstellte. Die bekannte Pilotin Hanna Reitsch führte den Hubschrauber vor 18.000 Zuschauern in der Berliner Deutschlandhalle vor und vertraute dabei voll auf die einwandfreie Technik des Konstrukteurs Focke.

Nach 1945 erhielt Henrich Focke ein Berufsverbot, kam in Gefangenschaft und wurde aufgefordert, für die Franzosen zu entwickeln. Später ging er nach England, Holland und Brasilien, baute auch dort Hubschrauber, bevor er Mitte der 50er-Jahre nach Deutschland zurückkehren und wieder konstruieren durfte. Bei Carl Borgward fand er einen Platz für seine Hubschrauberideen, und sie träumten von der Serienproduktion eines „Hubschraubers für jedermann“. Doch dieser Traum endete tragisch mit der Pleite von Borgward, als Henrich Focke bereits 71 Jahre alt war.

Dennoch gab Henrich niemals auf. Selbst in einem kleinen Bremer Hinterhof baute er einen neuen Windkanal, erforschte Strömungen und Luftwiderstände und publizierte wissenschaftliche Erkenntnisse. Er nutzte einfache physikalische Prinzipien und konnte mit Küchenwaagen und Gewichten hochpräzise Messungen durchführen, die dem Stand der Technik entsprachen. Trotz aller Rückschläge und der Tatsache, dass er in Deutschland oft zu Unrecht in den Schatten gestellt wurde, war Henrich Focke mit dem Erreichten zufrieden. Heute werden am Neuenlander Feld, dem ehemaligen Standort des ersten Schuppens der Brüder, Airbus-Teile gebaut, ein Zeugnis ihres nachhaltigen Vermächtnisses.

Eine ungleiche Partnerschaft, die die Welt bewegte
Wilhelm und Henrich Focke waren Brüder, die unterschiedlicher kaum hätten sein können, aber in ihrer Leidenschaft für das Erfinden, Konstruieren und vor allem das Fliegen untrennbar verbunden waren. Wo Wilhelm im Genialen steckenblieb, verwandelte Henrich es in Realität. Henrich kümmerte sich auch sein Leben lang um seinen Bruder, wie er es dem Vater versprochen hatte, da Wilhelm als Künstler nicht „ökonomisch überlebensfähig“ war.

Ihr Schaffen war ein Paradebeispiel dafür, wie Vision und Präzision Hand in Hand gehen müssen, um bahnbrechende Innovationen zu schaffen. Wilhelms unendliche Ideen und sein künstlerisches Gespür für Dynamik legten den Grundstein, während Henrichs systematische Herangehensweise, sein Fokus auf Sicherheit und seine ingenieurtechnische Umsetzung diese Träume flugfähig machten.

Man könnte ihre Zusammenarbeit mit einem Künstler und seinem talentierten Bühnenbauer vergleichen: Der Künstler (Wilhelm) hat die kühnen, oft fantastischen Ideen für ein atemberaubendes Spektakel. Er sieht die Farben, die Bewegungen, die Emotionen – das große Ganze. Doch es ist der Bühnenbauer (Henrich), der mit seinem präzisen Wissen um Statik, Materialien und Mechanik die Vision des Künstlers greifbar macht, die Kulissen aufstellt und die komplizierte Technik installiert, damit die Show tatsächlich stattfinden und das Publikum verzaubern kann. Einer lieferte die Flügel der Fantasie, der andere die Mechanik, die sie in die Lüfte hob.

Ärzte ohne Gewissen: Das grausame Erbe der Menschenversuche im Dritten Reich

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Im Dritten Reich bot sich Medizinern eine beispiellose, verlockende Möglichkeit: Statt auf Meerschweinchen und Laborratten, konnten sie Menschen für Versuchszwecke nutzen. Diese erschreckende Freiheit führte zu einer Reihe von unfassbaren Verbrechen, die das Fundament der medizinischen Ethik erschütterten.

Gehirne ermordeter Kinder und die Gleichgültigkeit der Forschung In Wien sammelten Mediziner, darunter Heinrich Gross, die Gehirne und Gehirnschnitte von etwa 400 ermordeten Kindern aus psychiatrischen Einrichtungen. Die Hirnforschung bediente sich schlicht am Überfluss dieser „Materialien“, ohne Rücksicht auf die Umstände des Todes oder das Einzelschicksal der Opfer. Kinder wurden zu medizinischen Präparaten reduziert, ihr Leid und ihre Angst vor Ärzten, die nicht halfen, sondern sie als Forschungsobjekte und „Verbrauchsmaterial“ sahen, wurde ignoriert.

Gewebeschnitte hingerichteter Frauen: Die Karriere eines Anatomieprofessors Dr. med. Hermann Stieve, Ordinarius der Berliner Universität, machte seine Karriere mit Arbeiten über die Entwicklung des Eierstocks und widmete sein Leben der Einwirkung von Angst und Schrecken auf diese Organe. Er sammelte Daten aus dem Intimleben von Opfern während ihrer Haft und verarbeitete hingerichtete Frauen des deutschen Widerstandes, darunter Elisabeth Schumacher und Ilse Stöbe, zu Gewebeschnitten. Stieve starb 1952 als Ordinarius der Berliner Humboldt Universität und wurde postum zum Ehrenmitglied der Deutschen Bühnenökologischen Gesellschaft ernannt.

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft – Eine treibende Kraft hinter den Verbrechen Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und der personell identische Reichsforschungsrat, ansässig im ehemaligen Haus der Forschung in Berlin-Steglitz, rüsteten die deutsche Forschung heimlich auf. Sie finanzierten Studien, die von der Erfassung von „Zwergnegern“ in Kambodscha bis zur Erfassung von Sinti und Roma reichten, die in Auschwitz vernichtet wurden, sowie vieles andere, was „rassisch oder militärisch nützlich“ erschien. Genehmigungen in der Sparte Medizin erteilte der berühmte Chirurg Ferdinand Sauerbruch, der auch die menschenmordende Forschung Josef Mengeles in Auschwitz-Birkenau bewilligte.

Skrupellose Experimente an wehrlosen Patienten und KZ-Häftlingen

• Multiple Sklerose-Studien: Professor Georg Schaltenbrand nutzte in Schloss Werneck, der „schönsten Psychiatrie Deutschlands“, wehrlose Patienten für Menschenversuche. Er versuchte, sie mit Multipler Sklerose anzustecken, indem er ihnen Affen-Liquor (Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit) injizierte. Seine Experimente scheiterten vorzeitig, da seine Versuchspersonen im Rahmen der Nazi-Euthanasie „abtransportiert und vergast“ wurden. Trotz seiner NSDAP- und NS-Ärztebund-Mitgliedschaft wurde ein Ermittlungsverfahren gegen ihn nach dem Krieg dank eines Gutachtens eingestellt, das seine Versuche weder für strafbar noch für sittlich anfechtbar befand.

• Mauthausen –  Hunger, Impfstoffe und der „Schlachter“ Dr. Heim: Im Konzentrationslager Mauthausen wurden zahlreiche Häftlinge, gezeichnet von Hunger, für Ernährungsversuche und Verträglichkeitstests von Impfstoffen der Behring-Werke missbraucht. Einige Impflinge wurden ohne Gesicht, als „anonyme Versuchsobjekte“ gezeichnet. Der Versuchsleiter Dr. med. Karl Josef Groß konnte sich nach 1945 unbehelligt als Arzt niederlassen. Professor Dr. med. Ernst Günther Schenk, Ernährungsinspekteur der Waffen-SS, dessen Ermittlungsverfahren ebenfalls eingestellt wurde, wurde später „Wiedergutmachungsexperte für Hungerschäden“. Besonders berüchtigt war Dr. med. Aribert Heim, der Augenzeugen zufolge an Sadismus nahezu alle KZ-Ärzte übertraf. Er ermordete Hunderte von Juden mit Spritzen ins Herz, sezierte sie bei vollem Bewusstsein und bereitete ihre Köpfe aus „wegen des guten Gewissens“. Obwohl er als „höflich, gebildet, intelligent, kalt“ beschrieben wurde, verschwand er 1962, als er verhaftet werden sollte, und wird noch heute gesucht.

• Dachau – Höhen- und Unterkühlungsversuche der Luftwaffe: Im KZ Dachau wurden ab 1942 in einem Versuchslabor der Deutschen Luftwaffe höhen- und unterkühlungsversuche an polnischen, russischen und jüdischen Gefangenen durchgeführt. Sie wurden in Unterdruckkammern künstlich in Höhen bis 21 Kilometer gebracht, was zu Krämpfen, Ohnmachtsanfällen, Blindheit, Lähmungen, Wahnsinn und Tod führte. Manche Opfer wurden noch atmend seziert, ihre Organe zur „wissenschaftlichen Auswertung“ entnommen. Bei den Unterkühlungsversuchen wurden die Körpertemperaturen der Verkabelten gemessen, Blut- und Urinproben entnommen und Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit punktiert. Trotz des Todes von Versuchspersonen protestierte bei einem Treffen hochrangiger Mediziner in Nürnberg niemand lautstark oder trat aus Protest zurück. Viele der beteiligten Ärzte, darunter Professoren wie Hans-Joachim Deuticke und Hermann Rhein, setzten ihre Karrieren nach 1945 unbehelligt fort und bekleideten wichtige Positionen.

• Ravensbrück und Buchenwald – IG Farben und pharmazeutische Testreihen: Im KZ Ravensbrück wurden Frauen „bis auf die Knochen geschnitten oder die Knochen mit dem Hammer auf dem OP-Tisch zertrümmert“. Das KZ Buchenwald diente ab 1942 als Experimentierfeld für das Robert-Koch-Institut, die Wehrmacht und die IG Farben, die neue Präparate direkt am Menschen testeten. Gesunde Häftlinge wurden künstlich zu Fleckfieberkranken gemacht, um die Wirksamkeit von Präparaten wie Akridin Granulat und Rote Null zu testen. Diese Mittel zeigten in keinem Fall Wirkung, stattdessen traten zahlreiche Nebenwirkungen auf. Firmen wie Bayer hatten sogar eigene Mitarbeiter in den KZs, wie Dr. med. Helmut Vetter, dessen Einkommen stieg, während seine menschlichen Versuchsobjekte qualvoll zugrunde gingen. Auch hier setzten viele beteiligte Mediziner, darunter Professor Dr. Hermann Meyer und Dr. Bernhard Schmid, ihre Karrieren nach dem Krieg fort.

• Giftgas-Experimente in Spandau und Natzweiler: Die Zitadelle Spandau diente als Gasschutzlabor der Wehrmacht, wo Kampfgase wie Phosgen, Lost, Tabun und Sarin an Menschen erprobt wurden, was zum Tod durch Ersticken führte. Eine Bildersammlung dokumentierte die grausamen Verletzungen der Versuchspersonen. Dr. Dr. Wolfgang Wirth, der Chef-Toxikologe, wurde nach dem Krieg Professor an der Medizinischen Akademie Düsseldorf und Vorstand eines pharmazeutischen Instituts. Im KZ Natzweiler-Struthof wurden ebenfalls Häftlinge Lost-Gas-Experimenten unterzogen, was „kolossale Schmerzen“ und den Tod zur Folge hatte. Trotz der Beteiligung an diesen grausamen Versuchen, darunter auch solche, bei denen manche Häftlinge bewusst ohne Schutz blieben, während andere ein angebliches Gegenmittel erhielten, wurden Professoren wie Eugen Hagen und Otto Bickenbach nach kurzer Haft freigelassen und durften weiterhin als Ärzte arbeiten.

Josef Mengele und das Kaiser-Wilhelm-Institut – Der „Forschungstraum“ in Auschwitz Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, Menschliche Erblehre und Eugenik, eine Eliteinstitution der Genetiker, verkörperte die dunkle Seite der Forschung. Unter der Leitung von Professor Otmar Freiherr von Verschuer, dessen Forschung von der DFG finanziert wurde, konzentrierte man sich auf Zwillingsforschung und die Erfassung von Menschen, die verfolgt wurden, darunter Kranke, Behinderte, Homosexuelle, Sinti und Roma. Verschuer’s Lieblingsassistent, Josef Mengele, fand in Auschwitz-Birkenau sein „Forschungsparadies“. Hier standen ihm 100.000 Menschenobjekte, darunter 350 Zwillingspaare, für beliebige Experimente zur Verfügung. Schwangere wurden ab 1944 nicht mehr vergast, sondern die Föten für Forschungszwecke abgetrieben und nach Berlin geschickt. Mengeles Forschung umfasste detaillierte Messungen, Augenuntersuchungen und das Sammeln von Augen, Organen und embryonalem Material für eine geplante „biologische Zentralsammlung“ und sogar einen „Menschenzoo“. Das Kaiser-Wilhelm-Institut „hatte keine Schranken für die Forschung gefördert“, ein Traum, der in Auschwitz-Birkenau „erfüllt“ wurde. Mengele floh nach Südamerika und bereute nichts.

Das Ausmaß dieser Gräueltaten zeigt, wie sich die medizinische Wissenschaft im Dritten Reich von ihren ethischen Verpflichtungen löste und Menschen zu bloßem Material für perverse Forschungszwecke degradierte. Viele der Täter entgingen der Rechenschaftspflicht und setzten ihre Karrieren fort, was eine tiefe Wunde in der Geschichte der Medizin hinterlässt. Die Verbrechen der „Ärzte ohne Gewissen“ sind ein düsteres Mahnmal dafür, wie schnell der Kompass der Moral verrutschen kann, wenn wissenschaftlicher Ehrgeiz und ideologische Verblendung Hand in Hand gehen – wie ein Schiff, das im Sturm seinen Anker verliert und hilflos auf die Felsen zutreibt.

Flucht in die Freiheit: Wie eine Familie der DDR mit einem Agrarflugzeug entkam

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Gadebusch, 25. August 1973 – Ein gewöhnlicher Samstagabend verwandelte sich in der kleinen mecklenburgischen Stadt Gadebusch in eine Nacht des Nervenkitzels und der Verzweiflung, als der Flugzeugmechaniker Jürgen Glaser einen waghalsigen Plan in die Tat umsetzte: die Flucht aus der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) mit einem Agrarflugzeug vom Typ Z-37 „Čmelák“. Dieser spektakuläre Versuch, dem „Riesengefängnis“ der DDR zu entkommen, wie Glaser es rückblickend beschreibt, sollte das Leben seiner jungen Familie für immer verändern.

Ein Leben in Unzufriedenheit und Überwachung
Die Familie Glaser war erst im Frühjahr 1973 von Dresden nach Gadebusch gezogen, nur zehn Kilometer von der Grenze zur Bundesrepublik entfernt. Obwohl es der Familie finanziell besser ging als vielen anderen, empfanden sie sich als unglücklich und unzufrieden mit dem System der DDR. Die ständige Bevormundung, Bespitzelung und Propaganda belasteten sie schwer. Besonders das Gefühl des Eingesperrtseins und die ständigen Verbote – „dies geht nicht, jenes geht nicht“ – waren unerträglich. Die Verlockungen des Westens, die heimlich über Antennen unter dem Dach empfangen wurden, verstärkten diesen Wunsch nach Freiheit. Es gab nur wenige Möglichkeiten, aus dem Land zu fliehen: durch die Ostsee schwimmen, Tunnel graben oder Ballons bauen – „das ist nicht normal“, so die Überzeugung der Glasers.

Jürgen Glaser, ein gelernter KFZ-Mechaniker mit einer lebenslangen Faszination für die Fliegerei, hatte sich bei der Interflug, der staatlichen Fluggesellschaft, als Flugzeugmechaniker beworben und war angenommen worden. Obwohl er kein Parteimitglied war, was bevorzugt wurde, half ihm seine Ehe bei der Anstellung. Als Stationsmechaniker hätte er sogar die Möglichkeit gehabt, Pilot zu werden, was eine „ganz hohe, enorme“ Position in der DDR darstellte. Doch Glaser wollte weg.

Der waghalsige Plan und die Tücke der Technik
Der Agrarflugplatz Ganze, drei Kilometer von Gadebusch entfernt, war wie jeder Flugplatz in der DDR ein hochsensibler Sicherheitsbereich. Das Betreten war selbst Familienangehörigen der Piloten und Mechaniker verboten. Der Platz wurde „wie ein Maschinengewehr“ bewacht, und jeder Schritt wurde minutiös von Überwachern dokumentiert, die sich im Wald versteckten. Ein unvorbereitetes Abheben war schlichtweg unmöglich. Die Agrarflugzeuge selbst waren mit komplexen Sicherungen versehen: vier Schlüssel, die zwischen Mechaniker und Pilot aufgeteilt waren, und ein langer Sicherungsstab, der den Vergaser blockierte. Ein „Waffeleisen“ am Gashebel und Steuerungshebel der Luftschraube machte es einem Nicht-Piloten fast unmöglich, die Maschine zu fliegen.

Der Entschluss zur Flucht war impulsiv: „Wenn ich da noch länger drüber nachgedacht hätte, hätte ich es sein gelassen“, gesteht Glaser. Am Nachmittag des 25. August 1973, gegen 16 Uhr, wurde der Plan gefasst. Jürgen Glaser überlistete den Piloten, indem er unter dem Vorwand, das Flugzeug waschen zu müssen, den „Waffeleisen“-Schlüssel erbat. Der Chef des Flugplatzes, sein Vorgesetzter, der Pilot, wurde mit einer vorgeschobenen Arbeitspause nach Hause geschickt.

Der Flug ins Ungewisse
Mit einer kleinen Stofftasche, die nur Ersatzunterwäsche, Socken und ein Stofftier für den dreijährigen Sohn Carsten sowie die Personalausweise enthielt, bestieg die Familie Glaser das Agrarflugzeug. Die Angst war immens: die Sorge, abgefangen zu werden, nicht starten zu können, und die Angst um das eigene Leben und das des Kindes. Die Familie saß im hinteren Teil des Flugzeugs, getrennt durch den Düngemittelbehälter. Jürgen Glaser konnte sich mit seiner Frau Heidi nicht mehr verständigen.

Der Start war eine Katastrophe. Jürgen Glaser war kein Pilot und hatte nur wenige Wochen als Mechaniker auf dem Flugplatz gearbeitet. Das Flughandbuch hatte er aus Neugier besorgt, nicht zur Fluchtvorbereitung. Das Flugzeug hob mit zu niedriger Geschwindigkeit „langsam aber sicher“ ab. „Das war unser großes Glück“, so Glaser, denn sonst wären sie sofort abgestürzt. Er flog direkt auf zwei Bäume und die „Zehwanlage“ zu, ein Warnsystem mit roter Lampe und Klingel, das bei zu langsamer Geschwindigkeit auslöste. Aus purer Angst rührte er den Steuerknüppel nicht an, und das Flugzeug schraubte sich wie von selbst hoch, knapp über die Bäume hinweg.

Die ersten 5 bis 10 Minuten flogen sie in nur 200 bis 300 Metern Höhe. Dann stieg Glaser auf 600 Meter, da er wusste, dass die Grenze parallel verlief und sie sich bereits im 7-Kilometer-Sperrgebiet befanden. „Ich wusste, dass es nicht möglich war, mich auf die Schnelle so zu erwischen“, erinnert er sich. Rund 30 Minuten flogen sie die Grenze entlang, mit guter Sicht und klarem Wetter, bis er im Norden den Flugplatz Lübeck-Blankensee erkannte. In diesen 30 Minuten war er „der stolzeste Mensch der ganzen Welt“ und genoss jeden Moment als „Flugkapitän“.

Landung unter Anleitung
Das Glücksgefühl hielt jedoch nicht lange an. Die Landung erwies sich als die größte Herausforderung. Jürgen Glaser beschreibt seine Anflüge auf Blankensee als „falsch“: falsche Höhe, falsche Richtung, wahrscheinlich sogar falsche Geschwindigkeit. Er drehte drei Runden über dem Flugplatz, während 15 Leute unten zuschauten, als sähen sie einen Segelflieger. Ein Seilwindenbediener rief ihm zu: „Junge, komm runter!“.
Glücklicherweise befand sich der Fluglehrer Friedrich Hamesfah auf dem Flugplatz. Er erkannte sofort, dass der Pilot der Z-37 in Schwierigkeiten war und nicht landen konnte. Hamesfah stieg mit einer Cessna auf, fing Glasers Flugzeug ein und lotste ihn zur Landebahn. Das Manöver war kritisch, da eine Kommunikation über Funk nicht möglich war.

Das Leben danach
Die Flucht hatte weitreichende Folgen. Der Pilot, der Jürgen Glaser den Schlüssel gegeben hatte, wurde fliegerisch gesperrt. Heidi Glaser erlitt als Folge der Flucht jahrelang Angstzustände in engen Räumen. Jürgen Glaser selbst litt noch Jahre später unter Nachtalbträumen, in denen er vor eine Mauer gestellt und erschossen wurde. Die Ehe der Glasers hielt nach der Flucht noch sieben Jahre, dann trennten sie sich. Sohn Carsten, damals drei Jahre alt, erinnert sich heute nicht mehr an die Flucht. Jürgen Glaser lebt heute mit seiner zweiten Frau auf Teneriffa und betreibt ein Reiseunternehmen.

Die Flucht der Familie Glaser bleibt ein eindringliches Beispiel für den verzweifelten Wunsch nach Freiheit und die Risikobereitschaft, die Menschen eingingen, um dem Gefühl des Eingesperrtseins in der DDR zu entkommen. Es war ein Sprung ins Ungewisse, angetrieben von einer inneren Notwendigkeit, der zeigt, dass selbst ein unscheinbares Agrarflugzeug zum Symbol der Hoffnung werden kann, wenn die Tür zum Käfig sich öffnet.

Stralsund: Vom morbiden Charme zur strahlenden Hansestadt

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Stralsund, die einstige Hansestadt am Strelasund, hat in den letzten Jahrzehnten eine bemerkenswerte Wandlung vollzogen. Einst gezeichnet von Verfall und Vernachlässigung, präsentiert sie sich heute als stolzes UNESCO-Weltkulturerbe, das mit historischen Baudenkmalen, dem Meeresmuseum und dem Ozeaneum zahlreiche Besucher anzieht. Doch der Weg zur „Perle am Strelasund“ war steinig und forderte immense Anstrengungen und Geduld.

Die Nachwendezeit: Euphorie und Ernüchterung
Nach dem 9. November 1989 herrschte in Stralsund eine anfängliche Euphorie. Viele glaubten an eine neue DDR und die Möglichkeit, Veränderungen herbeizuführen. Die Stimmung war geprägt von Aufbruch und dem Gefühl, dass nun „blühende Landschaften“ entstehen würden, wie es versprochen wurde. Doch diese optimistische Sicht wich schnell der Realität: Es wurde klar, dass die Transformation nicht so schnell und ohne äußere Einflüsse möglich sein würde.

Die Altstadt, die bereits in den 1980er Jahren unter Leerstand und mangelnder Sanierung litt, geriet nach der Wende noch schneller in einen Abwärtssog. Häuser wurden freigezogen, da Menschen Wohnungen in Neubauten fanden, kleine Läden und Kneipen schlossen, und die Lichter gingen aus – die Altstadt starb regelrecht. Besonders die Langenstraße und Frankenstraße boten ein Bild, als wären sie frisch aus dem Krieg gekommen, mit teils nur noch stehenden Fassaden oder wie ausgebombten Häusern. Eine Bewohnerin beschreibt die Frankenstraße damals sogar umgangssprachlich als „Frankensteinstraße“, die wie eine Theaterkulisse wirkte und ihrem kleinen Sohn Angst machte.

Der schlechte Zustand der Altstadt wurde von vielen als Normalität wahrgenommen, da der Fokus auf anderen Dingen lag, wie der Verschönerung des eigenen Wohnraums mit einfachen Mitteln. Das Konzept des Immobilienbesitzes spielte in der DDR nicht die gleiche Rolle wie heute, und mit gesetzlich festgeschriebenen, nicht erhöhbaren Mieten war die Erhaltung von Häusern für Eigentümer uninteressant. Es war kaum vorstellbar, ein Haus in der Stadt aufzubauen oder zu erwerben, es sei denn, man war Handwerker, hatte die nötigen Beziehungen für Material und einen enormen Optimismus. Pläne, große Teile der Altstadt abzureißen und durch Plattenbauten zu ersetzen, ähnlich wie in Greifswald, zeugen von der damaligen Perspektivlosigkeit.

Der mühsame Weg der Sanierung und der Durchbruch
Die ersten Jahre nach der Wende waren von einem gefühlten Stillstand geprägt. Obwohl viel Tiefbau stattfand – Leitungen wurden erneuert, Straßen aufgerissen und Kanalisation sowie Kabel verlegt – waren im Hochbau nur Sicherungsmaßnahmen sichtbar, um Häuser vor dem Einsturz zu bewahren. Die ungeklärten Eigentumsverhältnisse waren ein großes Hindernis. Es dauerte fast ein Jahrzehnt, bis sich eine Aufbau-Stimmung durchsetzte.

Dennoch wurden erste Maßnahmen ergriffen: Etwa 300 bis 400 einzelne Sicherungsmaßnahmen an Häusern kosteten rund 16 Millionen Euro und zogen sich über lange Zeit hin. Stralsund entwickelte in dieser Phase ein beachtliches „Know-how“ im Umgang mit Hausschwamm und einstürzenden Häusern. Die Priorität lag auf dem Erhalt der vorhandenen Substanz, da sie als Zeugnisse der Geschichte und der stolzen Hansestadt galten.

Ein entscheidender Wendepunkt war die massive Unterstützung durch Städtebaufördermittel, die als „Rettung“ für Städte wie Stralsund beschrieben werden. Diese nutzten die Chance, die Altstadt zu entwickeln und ihr eine Zukunft zu geben. Das Verständnis in der Stadtgesellschaft, Dinge anzupacken, führte zu einer beeindruckenden Geschwindigkeit bei der Umsetzung von Projekten.

Ein sichtbares Zeichen des Wandels ist das Quartier 17, ein großer Neubaublock, der eine kriegsbedingte Baulücke schloss, die durch einen Bombenangriff im Oktober 1944 entstanden war. Obwohl der Bau kontrovers diskutiert wurde, wird er heute als positiver Gewinn für die Stadt wahrgenommen. Stralsund bewahrte die historische Struktur der Stadt, wie Straßenverläufe und Plätze, während neue, moderne Gebäude hinzugefügt wurden, anstatt historische Bauten zu kopieren. Die Vision ist es, eine gute Einheit zwischen historischen und neuen Gebäuden zu finden, wobei jede Zeit ihren Beitrag zur Gestaltung der Stadt leisten soll.

Die Rückeroberung des Hafens und neuer Bürgerstolz
Ein weiteres prägendes Element für Stralsunds Wiedergeburt ist die Wiederbelebung der Hafenbeziehung. Der Hafen, einst Sperrgebiet und nicht zugänglich, ist heute ein kulturelles Zentrum und eine Flaniermeile, besonders die Hafeninsel. Alle Straßen der Altstadt führen zum Hafen, der mit dem Ozeaneum und dem Meeresmuseum ein enormer Anziehungspunkt für Touristen geworden ist. Das Krähen der Möwen und die Atmosphäre am Wasser gehören einfach zu einer Hafenstadt dazu. Es ist beeindruckend, dass diese wunderbaren Flächen nicht privatisiert, sondern für die Allgemeinheit und Besucher zugänglich gemacht wurden. Der Blick von der Hafeninsel hinauf zum Alten Markt und den Kirchen, mit alter und neuer Architektur, Natur und Brücken, ist einzigartig und erzeugt „Gänsehaut“.

Stralsunds Verwandlung ist so tiefgreifend, dass Touristen, die die Stadt in den 1990er Jahren besuchten, heute von einem „Traum“ sprechen. Dieser Wandel hat zu einem wiedererwachenden Bürgerstolz geführt. Man ist stolz auf das Erreichte und dankbar für all jene, die in die Stadt investiert und etwas geschaffen haben.

Die Stadt hat sich von einem melancholisch schlafenden Ort mit mangelnder Sorgfalt und leisem Verfall, wie Franziska Tiburtius Stralsund 1852 beschrieb, zu einer dynamischen und lebenswerten Stadt entwickelt. Stralsunds Geschichte wiederholt sich zwar in Zyklen, aber diesmal ist es eine Geschichte des Wiederaufstiegs.

Stralsunds Reise von einer fast verlorenen Altstadt zu einem blühenden Weltkulturerbe gleicht einem verborgenen Schatz, der unter Schichten von Staub und Verfall begraben lag. Mit behutsamer Hand und großem Einsatz wurde dieser Schatz nicht nur freigelegt, sondern auch restauriert und neu ins Licht gerückt. Heute strahlt er in neuem Glanz und zieht Menschen aus aller Welt an, die seine Schönheit und die Geschichte seiner Wiederentdeckung bewundern möchten.

Wustrow: Die Verbotene Insel im Dornröschenschlaf

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Rerik, Mecklenburg-Vorpommern. Nur wenige hundert Meter hinter dem idyllischen Urlaubsparadies Rerik, malerisch zwischen Salzhaff und Ostsee gelegen, verbirgt sich eine Halbinsel voller Geheimnisse und Gefahren: Wustrow. Seit über 30 Jahren unbewohnt, ist sie ein gefährliches Sperrgebiet und eine Geisterstadt mitten in Deutschland. Doch warum bleibt diese wunderschöne Halbinsel, die einst als „Leben wie im Paradies“ beschrieben wurde, unbebaut, und welche düsteren Geheimnisse birgt sie?

Eine militärische Vergangenheit: Vom Reichsadler zur Roten Armee
Die Geschichte Wustrows ist tief in zwei entscheidende Abschnitte deutscher Geschichte eingebettet. Ein in einem Keller entdeckter Reichsadler, jahrelang hinter Fliesen verborgen, liefert einen unmissverständlichen Hinweis auf die wahre Vergangenheit der Häuser. Ab den 1930er-Jahren befand sich hier die größte Flakschule des Hitlerdeutschlands. Etwa 1500 Soldaten übten hier den Abschuss von Flugzeugen mit Flakgeschützen. Die Häuser dienten als Wohnraum für die Familien der Wehrmachtssoldaten – eine Nazimilitärstadt mit traumhaftem Meerblick, die bereits damals ein Sperrgebiet war. Trotz des militärischen Zwecks wurde das Leben auf Wustrow von den damaligen Bewohnern als paradiesisch empfunden, mit einer eigenen Schule und einem Kindergarten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Sieg über Hitlerdeutschland übernahm die Rote Armee die paradiesische Halbinsel. Die Sowjetsoldaten zerstörten die Nazimilitärbauten, nutzten jedoch die Wohnhäuser und zivilen Gebäude weiter. Für normale DDR-Bürger blieb das Betreten der Insel strikt verboten.

Das sowjetische „Paradies“ und seine Schattenseiten
Von 1945 bis 1993 lebten etwa 4000 sowjetische Soldaten und ihre Familien völlig autark auf Wustrow. Kontakte zur DDR-Bevölkerung gab es kaum. Die russische Militärstadt war umfassend ausgestattet und verfügte über alles Nötige zum Leben: ein Krankenhaus, eine Sporthalle, sogar ein großes Kino, in dem Filme aus der sowjetischen Heimat gezeigt wurden. Hinweise wie Notenblätter in einem Musikzimmer des ehemaligen Kindergartens sowie Schulbücher und Kinderzeichnungen in der Stützpunktschule zeugen vom Leben der russischen Kinder. Soldaten mit höherem Dienstgrad lebten vergleichsweise komfortabel in Drei- oder Vier-Zimmer-Wohnungen, in denen sogar noch Fernseher erhalten sind. Die prächtige Villa des Stützpunktkommandanten, von den Nazis erbaut, ist jedoch heute so zerfallen, dass ein Betreten zu gefährlich wäre.

Für die einfachen russischen Soldaten sah das Leben auf Wustrow allerdings ganz anders aus. Sie waren in Massenunterkünften untergebracht, mit bis zu 100 Mann pro Schlafsaal, meist in Doppel- oder Dreistockbetten, und hatten nur einen kleinen Holzschemel für ihre Kleidung. Trotz riesiger Backöfen und zahlreicher Mehlsäcke in der ehemaligen Stützpunktbäckerei mussten die einfachen Soldaten oft hungern und bettelten auf Ausfahrten regelmäßig bei den Einheimischen nach Brot, Äpfeln und Birnen. Ihre Ernährung wurde durch die Haltung von Schweinen verbessert, deren Nachkommen, die einzigartigen gefleckten „Russenschweine“, noch heute auf der Insel leben.

Wustrow war für viele einfache Soldaten eher ein kleines Gefängnis unter voller Überwachung. Deserteure versuchten, von der Halbinsel zum heutigen Urlaubsort Rerik zu schwimmen, wurden jedoch von Wachtürmen aus scharf beschossen. Eine bemerkenswerte Täuschungsstrategie der Sowjets war der Bau eines „Fake-Flughafentowers“ und das Aufstellen von Flugzeugattrappen ohne Motor, die nachts verschoben wurden, um dem westdeutschen Militär eine größere Militärpräsenz vorzugaukeln. Gerüchten zufolge diente der „Tower“ auch als Saunaclub für höhere Dienstgrade.

Ein gefährliches Erbe: Munition, Müll und Ruinen
Als die russischen Soldaten 1993 samt ihren Familien abzogen, ließen sie vieles zurück. Die Halbinsel ist bis heute tonnenweise mit scharfer und verschossener Munition belastet. Der Grund: Die Russen hatten den Auftrag, die Munition nach Hause zu exportieren, entschieden sich jedoch, diese vor Ort zu vergraben und stattdessen auseinandergenommene Westautos in die Container zu packen. So finden sich heute nicht nur dutzende Hülsen verschossener Flakmunition, sondern auch Autoteile und ein hektarweiter Müllhügel auf der Insel. Da es nie eine Müllabfuhr gab, wurde der Abfall von über 4000 Menschen einfach in die Natur gekippt.

Hinzu kommt die extreme Einsturzgefahr der Gebäude. Decken stürzen ein, Böden drohen einzubrechen, was die Halbinsel zu einem lebensgefährlichen Ort macht. Dies schreckt jedoch leichtsinnige „Lost Place“-Fans nicht ab, die sich illegal auf das Gelände schleichen. Um dies zu verhindern, drehen Sicherheitskräfte wie Norbert regelmäßig Kontrollrunden.

Wächter der Geisterstadt und ihre Zukunft
Einer der wenigen Menschen, die das Sperrgebiet jederzeit betreten dürfen, ist der Inselförster Marius Hein. Er kontrolliert das 10 Quadratkilometer große Gebiet regelmäßig. Als studierter Forstwirt kümmert er sich um vielfältige Aufgaben: das Fällen morscher Bäume, die Überwachung des Wildbestands (inklusive Jagd), die Pflege der Ziegenherde, die den Rasen zwischen den Häusern kurz hält, und die Begleitung von Fernsehteams – Marius ist hier eine Art „Lebensversicherung“.

Die Halbinsel Wustrow, von Marius als seltene savannenartige Landschaft beschrieben, fasziniert auch Investoren. 1998 erwarb der Immobilienunternehmer Ano August Jagdfeld das Gelände mit dem Plan, Teile der historischen Geisterstadt wieder aufzubauen sowie ein Hotel und Wohnungen zu errichten. Doch die Stadt Rerik wehrt sich seit Jahrzehnten gegen diese Pläne, vor allem aus Furcht vor erhöhtem Verkehrsaufkommen, und hat mehrere Bebauungspläne abgewiesen.

So verbleibt die Halbinsel Wustrow in einem Dornröschenschlaf. Müll und Munition bleiben vorerst liegen. Lediglich Spezialeinheiten der Polizei nutzen das Gelände regelmäßig für Übungsszenarien wie Häuserkampf und Geiselnahmen, wobei Sprengstoff und Munition zum Einsatz kommen. Während dieser Übungen ist die Insel komplett für die Öffentlichkeit gesperrt.

Obwohl die aktuelle Situation für viele schade ist, bleibt die Halbinsel Wustrow eine faszinierende Zeitkapsel, die zwei entscheidende Abschnitte deutscher Geschichte bewahrt. Sie ist wie ein uraltes Schiffswrack am Meeresgrund, gefüllt mit verborgenen Schätzen und Gefahren, dessen Geheimnisse langsam an die Oberfläche drängen, während die Zeit über seine rostenden Hüllen hinwegzieht, und dessen Bergung noch aussteht.

Bernd Brückner über Honeckers Isolation und den politischen Stillstand im Sommer ’89

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Bernd Brückner, Jahrgang 1948 und ehemaliger persönlicher Leibwächter Erich Honeckers von 1976 bis zum Ende der DDR 1989, gibt im Gespräch tiefe Einblicke in seine 13-jährige Karriere im Herzen des ostdeutschen Staates. Aufgewachsen in einem kommunistischen Elternhaus, dessen Großeltern bewusste Sozialisten waren, beschreibt er sich als überzeugten DDR-Bürger, der bis zum Schluss kein Oppositioneller war.

Vom Motorradenthusiasten zum Personenschützer Brückners Weg zum Personenschutz begann mit seiner Begeisterung für Motorräder und die koordinierte Fahrweise der Begleitfahrzeuge bei internationalen Delegationen. Er trat in die Verkehrspolizei ein und wurde aufgrund guter Leistungen zur Hauptabteilung Personenschutz, Abteilung 3, delegiert. Seine Ausbildung umfasste ein Jahr als Wachsoldat mit „allen Schikanen“ und eine Polizeischule, die er als einer der wenigen Absolventen einer „Polizeiakademie“ anstelle der MfS-Schule in Potsdam besuchte. Das Auswahlverfahren für Honeckers Schutz war äußerst gründlich und zog sich über ein halbes Jahr hin, wobei auch seine Westverwandtschaft überprüft wurde. Seine offizielle Funktion war „Oberkommando Leiter Sicherungskommando Personenschutz Honecker“.

Das Personenschutzsystem der DDR war laut Brückner international auf hohem Niveau und hatte sogar ausländische Kräfte ausgebildet, darunter die erste Generation von Arafats Personenschützern und eine ganze Gruppe von Gorbatschows Leuten. Das oberste Credo im Personenschutz war, dass der Schutz als Ganzes etwas falsch gemacht hatte, wenn ein Personenschützer sein Leben opfern musste. Stattdessen wurden Szenarien trainiert, wie die Evakuierung eines verletzten Honeckers, auch unter Einsatz des Lebens.

Honeckers „Blase“ und die Realität der DDR Rückblickend stellt Brückner fest, dass Honecker in einer „Blase“ lebte, „weit abgeschirmt von den realen Problemen des Landes in einer eigenen Welt“. Brückner selbst, der in einem Neubaugebiet wohnte, nahm diese „Blase“ nicht so hin und bemerkte mit zunehmendem Dienstalter eine wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Er sah Diskrepanzen zwischen den offiziellen Jubelmeldungen über Wohnungsbau und der Realität vor Ort. Obwohl seine Loyalität zum Staat dadurch nicht erschüttert wurde, sorgte er bei Parteiveranstaltungen manchmal für „starke Unruhe“, indem er sagte, „es kann nicht so sein“.

Honeckers erste Reaktion auf seinen Personenschutz war Distanz. Er sprach Brückner lange Zeit nicht mit Namen an. Erst nach den Attentaten auf Indira Gandhi und Olof Palme im selben Jahr, die Honecker als nahestehende Persönlichkeiten empfand, nahm er seinen Personenschutz ernster und kooperierte mehr. Brückner beschreibt, wie Honecker zeitweise „überheblich“ wirkte und Meinungen hatte, die keiner zu widersprechen wagte. Bei seiner letzten Reise in die Sowjetunion zeigte Honecker jedoch eine selten gesehene sentimentale Seite, indem er sich über gemeinsame Bekannte und seine Jugendzeit erkundigte.

Begegnungen und Beziehungen im System Brückner erlebte kuriose Situationen, wie einen nicht abgesprochenen „Freudentanz“ mit Vorderlader-Schüssen in Algerien oder physische Gewaltanwendung, um Honecker vor einer enthusiastischen Menschenmenge zu schützen. Eine besonders unerwartete Erfahrung waren Demonstrationen in Karl-Marx-Stadt, wo Menschen still und friedlich Transparente zeigten, was für das Sicherheitsteam völlig neu war.

Die Beziehung zwischen Erich und Margot Honecker war komplex. Margot Honecker, im Volksmund auch als „lila Drache“ bekannt, war eine „bewusste Persönlichkeit“, die sich ihrer Position und Funktion bewusst war. Sie bestand darauf, Ministerin für Volksbildung zu bleiben, anstatt nur die Rolle der First Lady auszufüllen, was sie als bewundernswert bezeichnete. Sie war ideologisch gefestigt und eine „Revolutionärin mit Leib und Seele“, die sich auch nach der Wende in Chile zu ihren Überzeugungen bekannte. Sie hatte eine angespannte Beziehung zu Stasi-Chef Erich Mielke, den sie öffentlich kritisierte. Mielke selbst empfand Personenschützer als „Sklaven“ und ließ sie Gartenarbeiten verrichten, selbst nach langen Diensten.

Honecker pflegte trotz ideologischer Differenzen gute Beziehungen zu einigen westdeutschen Politikern, darunter Franz Josef Strauß und Heinz Galinski. Brückner erlebte, wie Honecker sich in Strauß‘ Anwesenheit wohlfühlte und sogar eine persönliche Ansprache von Honecker bei Strauß‘ Beerdigung verhindert werden musste.

Der Fall der DDR und ein neues Leben Der Herbst 1989 kam für Brückner nicht völlig überraschend, aber stufenweise. Er spürte, dass es „voll gegen Baum gehen“ würde, wenn sich nichts änderte. Honecker war im Sommer 1989 krank und wurde im Regierungskrankenhaus von Informationen über die Flüchtlingswelle aus Ungarn abgeschirmt, was zu einem „absoluten politisch geistigen Stillstand“ führte. Brückner empfand die DDR in dieser Zeit als ein „führerloses Schiff“. Nach dem Machtwechsel erlebten die Personenschützer von Honeckers Vorgänger Ulbricht Hausarrest, was für Brückner eine beunruhigende Parallele war. Auch Brückners Familie erlebte Anfeindungen und Schikanen nach dem Fall der Mauer.

Der Übergang in die Bundesrepublik war anfänglich schwierig, da sein Lebenslauf als Personenschützer nicht die besten Startchancen bot. Doch er fand seinen Weg, gab Seminare und gründete ein eigenes Unternehmen im Bereich Arbeitsvermittlung, mit besonderen Beziehungen zu Vietnam, einem Land, in das er sich bereits 1977 bei einem Staatsbesuch Honeckers verliebt hatte. Heute lebt Brückner in Bayern und stellt fest, dass der Osten Deutschlands ihm nicht fremd geworden ist, auch wenn er Unterschiede in den Einstellungen, beispielsweise gegenüber Flüchtlingen, wahrnimmt.

Bernd Brückner zweifelt heute nicht an seiner Loyalität zum Staat, dem er diente, räumt jedoch ein, dass er manchmal „dummes Zeugs“ hörte und im Rückblick konstanter und lauter hätte sein müssen. Er teilt die Einschätzung, dass die jüngere Generation heute kaum noch weiß, wer Erich Honecker war. Doch er blickt auch auf positive Aspekte des damaligen Lebens zurück, wie die Sicherheit, die seine Frau nachts allein auf der Straße empfand, da „ein Sexualdelikt zum Beispiel … nicht so [war]“.

Brückners Karriere ist ein Spiegelbild der Geschichte: Er war ein Mann, dessen Leben untrennbar mit einem Regime verbunden war, das am Ende in sich zusammenfiel. Er war wie ein Kapitän auf einem Schiff, das auf Kurs gehalten werden sollte, während der Kompass des Steuermanns immer mehr versagte.

Der Fall einer Wirtschaft: Wie die DDR unter Honecker ins Trudeln geriet

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Die Deutsche Demokratische Republik (DDR), einst als sozialistisches Vorzeigeland konzipiert, sah sich in ihren letzten Jahrzehnten mit einer Reihe von wirtschaftlichen Herausforderungen konfrontiert, die letztlich zu ihrem Ruin führten. Besonders die Ära Erich Honeckers ab 1971 war geprägt von politischen Versprechen, die wirtschaftlich nicht haltbar waren und das Land in eine tiefe Krise stürzten.

Die fatale „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“
Als Erich Honecker 1971 an die Spitze der Partei trat, versprach er den Bürgern eine unmittelbare Verbesserung des Lebensstandards, anstatt sie auf eine bessere Zukunft zu vertrösten. Sein Kernkonzept war die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“. Formal bedeutete dies eine Stärkung der Sozialpolitik gegenüber der Wirtschaftspolitik, doch in der Praxis führte es zu tiefgreifenden Widersprüchen. Die Bürger erhielten höhere Sozialleistungen, mehr Konsumangebote und bessere Wohnungen. Als Gegenleistung erwartete Honecker politisches Einverständnis und erhöhte Produktivität, um die hohen Subventionen refinanzieren zu können. Die Losung änderte sich von „so wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben“ zu „ich leiste was, ich leiste mir was“.

Diese Politik war stark von Honeckers persönlichen Erfahrungen der Entbehrung geprägt. Er wollte, dass die Arbeiterklasse aus ihrer damaligen Elendsrolle befreit wird, mit einem Dach über dem Kopf, genug zu essen und erschwinglicher Bildung für die Kinder. Ein gigantisches Wohnungsbauprogramm wurde als Kernstück der Sozialpolitik beschlossen, das den Vorkriegszustand der Wohnverhältnisse für die Hälfte der Bevölkerung verbessern sollte. Doch die wirtschaftlichen Realitäten wurden dabei ignoriert.

Das Ende des Mittelstands: Ideologie vor Vernunft
Honeckers Politik schlug auch gnadenlos gegen die verbliebenen Privatbetriebe zu. Unternehmen wie die Damastweberei Aue der Familie Bauer oder die Feinkartonagenproduktion der Nestler KG wurden zur staatlichen Beteiligung gezwungen oder kurzerhand enteignet. Während in der Bundesrepublik Millionen Mittelstandsbetriebe eine entscheidende Wirtschaftsgröße bildeten, schrumpfte ihre Zahl in der DDR dramatisch: Von 17.000 Privatbetrieben, die 1950 noch 25% der industriellen Produktion erwirtschafteten, blieben 1972 nur noch etwa 5.700 halbstaatliche und knapp 2.700 reine Privatbetriebe übrig.

Die Enteignungen waren ein Sieg der Ideologie über die wirtschaftliche Vernunft. Parteifunktionäre sahen ihre Macht durch Unternehmer eingeschränkt, die ein Vielfaches ihrer Gehälter verdienten. Honecker selbst feierte die „Vernichtung des Bürgertums“ als Sieg der sozialistischen Revolution. Die Zerschlagung dieser flexiblen kleinen und mittleren Unternehmen beseitigte jedoch den letzten Rest an Anpassungsfähigkeit der Wirtschaft an Mangelerscheinungen und Nachfragen. Infolgedessen verschlechterte sich das Angebot an Konsumgütern, da nun die großen staatlichen Kombinate diese Produktion übernehmen mussten.

Absurditäten der Planwirtschaft: Teddys aus der Braunkohle
Die erzwungene Konsumgüterproduktion führte zu kuriosen und ineffizienten Zuständen. Industriebetriebe des Schwermaschinenbaus, deren Fachkenntnis im Bau von Fräsmaschinen lag, mussten plötzlich Elektroboiler herstellen. Braunkohlebergwerke, deren Personal für den Umgang mit Abraum und Kohle ausgebildet war, produzierten Plüschtiere. Ein Stahlwerk stellte Karnickelställe her, und das Schiffbaukombinat Rostock baute neben Schiffen auch Schrankwände und Gartenmöbel.

Diese Umstellung führte zwangsläufig zu Qualitätsmängeln und Kundendiensten, die mit den neuartigen Produkten überfordert waren. Es war ein klares Zeichen, dass die Wirtschaft am Ende war.

Das Subventionsdesaster: Scheinbar billig, tatsächlich teuer
Ein zentraler Pfeiler der Honecker’schen Sozialpolitik war die Politik stabiler Verbraucherpreise. Grundnahrungsmittel, Mieten und Verkehrstarife blieben extrem niedrig – ein Brötchen kostete immer fünf Pfennig, obwohl die Getreidepreise um über 300% stiegen. Um diese Preise zu halten, zahlte der Staat massive Subventionen, deren Volumen von 1,1 Milliarden Mark im Jahr 1960 auf 60 Milliarden Mark im Jahr 1989 anstieg, bei einem Nationaleinkommen von rund 300 Milliarden Mark. Ein Lebensmittelkorb im Wert von 100 Mark wurde 1989 mit 85 Mark subventioniert.

Diese Subventionen führten zu paradoxen Situationen und enormer Verschwendung: Lebensmittel wurden als Tierfutter verwendet, ineffizient geheizte Wohnungen verschwendeten Energie, und es gab kaum Anreize zum sparsamen Umgang mit Ressourcen. Fachleute schlugen vor, Subventionen abzuschaffen und durch direkte Zahlungen wie Kindergeld auszugleichen, aber Honecker lehnte dies ab, um sein Image als „Sozialvater des Landes“ nicht zu gefährden. Die Bevölkerung gewöhnte sich an die niedrigen Preise und empfand keine Dankbarkeit, sondern ärgerte sich über Mangelerscheinungen bei hochwertigeren Konsumgütern.

Export um jeden Preis: Die Schuldenspirale
In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre erhöhte die Sowjetunion die Ölpreise und drosselte ihre Rohölexporte, was die DDR ihrer wichtigen Einnahmequelle für Westgeld beraubte. Eine neue Strategie zur Devisenbeschaffung wurde notwendig: Kredite von westlichen Banken für den Bau neuer Industrieanlagen, um Produkte für den Export in den Westen zu produzieren und damit die Kredite zu bedienen.

Das führte zum „Export um jeden Preis“, bei dem die DDR ihre Produkte oft unter Herstellungskosten verkaufte, um überhaupt Devisen zu generieren. Dies hatte nicht nur wirtschaftlich negative Folgen, da es ein Zuschussgeschäft war, sondern auch gesellschaftlich: Die besten Produkte und Lebensmittel gingen in den Westen, während der eigenen Bevölkerung qualitativ minderwertigere Güter blieben. Der ikonische Designersessel von Rudolf Horn beispielsweise wurde ausschließlich für den Export gefertigt. Die Auslandsverbindlichkeiten der DDR stiegen dramatisch von 8,9 Milliarden Mark im Jahr 1975 auf 19,9 Milliarden Mark im Jahr 1989. Eine Senkung des Lebensstandards, die zur Reduzierung der Schulden nötig gewesen wäre, war politisch nicht durchsetzbar.

Der unvermeidliche Zusammenbruch
Die wirtschaftliche Lage der DDR verschlechterte sich zusehends. Großinvestitionen wie der Bau eines Warmwalzwerks mussten wegen Unfinanzierbarkeit abgebrochen werden. Die bevorzugte Förderung der Mikroelektronik brachte keine nennenswerten wirtschaftlichen Effekte. Die Entmündigung der Wirtschaftskader durch die Partei führte zu Resignation und einem Verlust des Glaubens an das eigene System.

Der Zusammenbruch der DDR war eine unauflösbare Verflechtung von wirtschaftlichem und politischem Versagen. Das Ende der Planwirtschaft eröffnete jedoch auch neue Chancen. Während manche Betriebe wie das Schuhkombinat Weißenfels in der Marktwirtschaft scheiterten, gelang es anderen, wie der Eisenhüttenkombinat Ost (EKO) oder reprivatisierten Familienunternehmen, sich erfolgreich neu zu positionieren. Diese Beispiele zeigten, dass die Menschen in Ostdeutschland durchaus über wirtschaftlichen Verstand und Geschick verfügten – wenn sie nicht durch ideologische Vorgaben behindert wurden.

Wie Reparationen und ein politisches Nein die DDR von Anfang an lähmte

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Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lag Deutschland in Trümmern. Während der Westen mit dem Marshallplan den Grundstein für einen beispiellosen Aufschwung legte, wurde im Osten eine andere Vision verfolgt: die Planwirtschaft nach sowjetischem Vorbild. Ein System, das mehr als nur Wirtschaftsfragen umfasste – es sollte alle Bereiche der Gesellschaft durchdringen. Doch gute Fachleute und Ideen allein reichten nicht aus, um ein Land, das auf einem „Schutthaufen“ errichtet wurde, vor dem Ruin zu bewahren.

Ein schwerer Start: Reparationen und verlorene Chancen
Die Ausgangslage für die 1949 gegründete DDR war desaströs: Der Kapitalstock betrug lediglich 40% des Westniveaus. Ein Hauptgrund dafür waren die massiven Reparationsleistungen an die Sowjetunion. Während die Westalliierten 668 Werke demontierten, was zu einem Kapazitätsverlust von etwa 5% führte, wurden in der sowjetischen Besatzungszone rund 3000 Betriebe abgebaut, was mindestens 30% der industriellen Kapazitäten zerstörte. Die ostdeutsche Bevölkerung trug 90% der gesamtdeutschen Reparationen und wies die höchste Pro-Kopf-Belastung des 20. Jahrhunderts auf – 60 Mal höher als in der Bundesrepublik Deutschland. Ganze Industrieanlagen verrosteten ungenutzt in der Sowjetunion, weil dort die Voraussetzungen für den Wiederaufbau fehlten.

Hinzu kam die Ablehnung des Marshallplans durch die Sowjetunion, die fürchtete, mit der westlichen Wirtschaftshilfe auch die politische Vorherrschaft über ihre Satellitenstaaten zu verlieren. Besonders die Tschechoslowakei wurde zur Ablehnung gezwungen.

Ein weiterer Aderlass war die Flucht des mittelständischen Unternehmertums. Tausende Betriebe, darunter viele Weltmarktführer aus Sachsen und Thüringen, verließen die Sowjetische Besatzungszone und trugen im Westen maßgeblich zum Wirtschaftswunder bei. Firmen wie Chlorodont, die Zahnpasta erfunden hatten, oder die Universal Dresden (Zigarettenmaschinen) setzten ihre Erfolgsgeschichten im Westen fort, während ihre volkseigenen Pendants im Osten international an Bedeutung verloren.

Das Korsett der Planung: Vom Fünfjahrplan zum Stillstand
Das Herzstück der DDR-Wirtschaft war der Plan. Nach einem Zweijahresplan startete 1950 der erste Fünfjahrplan, der detaillierte Wirtschaftsziele für jeden Industriezweig und Betrieb zentral festlegte. Prestigeobjekte wie das Eisenhüttenkombinat Ost (EKO), das in nur vier Jahren fünf Hochöfen errichtete, wurden zu Symbolen des wirtschaftlichen Aufschwungs und galten als „reifes Günesbuch der Rekorde“.
Doch die Planwirtschaft hatte eine fatale Eigendynamik: Jährlich wurden höhere Steigerungsraten vorgegeben, die sogenannten „Planaufgaben“.

Dieses System führte zu einer Tragik: Wenn Betriebsleiter wussten, dass sie im nächsten Jahr 3% mehr produzieren sollten, versuchten sie, die aktuelle Produktion so niedrig wie möglich zu halten, um die spätere Steigerung „beherrschbar“ zu machen. Sonderverpflichtungen, etwa zum Geburtstag Stalins, bei denen statt 30.000 40.000 Fernsehapparate geliefert werden sollten, führten zu hektischer Produktion und erheblichen Ausfällen, sodass ein Großteil der Geräte vom sowjetischen Abnehmer zurückgewiesen wurde.

Der Aufstand vom 17. Juni 1953 und der „Neue Kurs“
Die schlechte Versorgungslage und politische Gängelei führten am 17. Juni 1953 zum Arbeiteraufstand. Als Reaktion darauf wurden nicht nur der Sicherheitsapparat massiv ausgebaut, sondern auch wirtschaftliche Ursachen angegangen. Die Partei schwenkte um: Normen wurden gesenkt und die Leichtindustrie sollte mehr Aufmerksamkeit erhalten, um die Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern zu verbessern. Dieser „Neue Kurs“ zeigte jedoch zunächst kaum Wirkung, der Mangel blieb vorherrschend. Kampagnen gegen „Schieber und Spekulanten“, die Lebensmittel über die offene Grenze nach West-Berlin brachten, zeugen von der Verzweiflung und muten aus heutiger Sicht „sehr bizarr“ an.

Zwischen Stagnation und Innovation: Das Auf und Ab der 60er Jahre
Nach dem Bau der Mauer im August 1961, der die Abwanderung von Fachkräften eindämmte, konsolidierte sich die DDR-Wirtschaft zunächst. Unter Walter Ulbricht wurde das „Chemieprogramm“ vorangetrieben, basierend auf billigem sowjetischem Erdöl, das zu modernen Produkten veredelt und exportiert werden sollte – „Chemie bringt Brot, Wohlstand und Schönheit“ war die Parole.

Mitte der 60er Jahre wurden auch sichtbare Fortschritte auf Messen präsentiert: Der Trabant 601, Geschirrspülmaschinen, elektrische Zahnbürsten und leistungsfähige Kräne vom Kirowwerk Leipzig zeigten, dass die DDR in einigen Bereichen „Weltniveau“ erreichte. Das Bruttosozialprodukt stieg zwischen 1960 und 1969 um durchschnittlich 5% jährlich, und die Ausstattung der Haushalte mit Waschmaschinen, Kühlschränken und Fernsehapparaten verbesserte sich deutlich, wenn auch nicht immer auf Westniveau.

Um die Wirtschaft effektiver zu gestalten, wurde 1963 das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung (NÖS) eingeführt. Es sollte „ein bisschen Markt mitten in der Planwirtschaft“ schaffen, indem Betriebe für ihre Produktion und Finanzen selbst verantwortlich gemacht und nach Gewinn orientiert wurden. Erich Apel, der Chef der Plankommission, war die treibende Kraft hinter dieser Reform. Seine Ideen, die auch im Westen wahrgenommen wurden, zielten darauf ab, den Lebensstandard zu erhöhen und die Bevölkerung enger an das System zu binden. Apel wollte „Wertkategorien ins Zentrum der Politik stellen“, was auch bedeuten sollte, dass ein sozialistischer Betrieb „bankrott gehen kann, aber eben planmäßig abwickeln“. In Wirtschaftskreisen herrschte „Aufbruchstimmung“. Doch Apels Reformansätze stießen auf Widerstand im Apparat. Nach seinem Tod im Jahr 1965 (vermutlich Selbstmord) wurde das NÖS schnell wieder eingestellt, da es die Kontrolle und Machtkompetenz der SED in Frage stellen könnte.

Trotz des Scheiterns des NÖS entstanden in den 60er Jahren weiterhin innovative Produkte. Rafena aus Radeberg produzierte Fernsehgeräte auf internationalem Niveau, die sich in Bildqualität nicht von westlichen Geräten unterschieden. Auch im Möbelbau gab es Fortschritte: Rudolf Horn entwickelte für die Werkstätten Hellerau ein Modulsystem zum Selbstaufbau, eine „berühmte Ikea-Idee vorweggenommen“. Diese Möbel waren international gefragt, aber für den normalen DDR-Bürger kaum erhältlich; es gab nur „Beratungsmuster“ im Laden, und man musste „Jahre oder Monate darauf warten“.

Das Ende einer Illusion: Kybernetik und Realität
Walter Ulbricht setzte in seinen letzten Jahren auf ein weiteres Großprojekt: die Kybernetik. Er hoffte, mit riesigen Rechenmaschinen alle wirtschaftlichen Prozesse bis ins Kleinste berechnen und einen optimalen Plan erstellen zu können. Doch die Realität holte die Planer ein. Eine Anekdote besagt, dass ein Computer am Institut für Wirtschaftsführung in Ransdorf, dem alle Wirtschaftsdaten der DDR eingegeben wurden, schließlich die Empfehlung ausgab: „Politbüro absetzen!“. Der Computer hatte „kein Klassenbewusstsein“ und entschied „rational“.

Die Erzählung mag übertrieben sein, doch sie spiegelt das Dilemma der Planwirtschaft wider: Sie kostete Kraft, verschliss Menschen und konnte trotz aller Anstrengungen und temporärer Erfolge die grundlegenden Probleme einer nicht marktwirtschaftlich organisierten Ökonomie nicht überwinden. Mit dem Abgang Ulbrichts und dem Antritt Erich Honeckers im Jahr 1971 kündigte sich ein neues Wirtschaftsprogramm an, doch die grundlegenden Strukturprobleme blieben bestehen.

Die entscheidende Rolle von ARD und ZDF im geteilten Deutschland

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In der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) gab es eine Region, die man das „Tal der Ahnungslosen“ nannte, da sie zu DDR-Zeiten unerreichbar für die Sender von ARD und ZDF war – der Weg nach Sachsen war zu weit. Doch selbst dort, in Dresden-Hellerau, regte sich erfinderischer Geist: Schon 1985 stellte ein Verein einen Antrag auf Genehmigung zum Bau einer Antenne, die offiziell dem besseren Empfang des DDR-Fernsehens dienen sollte. Zwei Jahre später, 1987, erhielten sie die Genehmigung für eine 3 Meter hohe Antenne, die sie geschickt auf einem Wasserturm anbrachten. So öffnete diese Antenne für ganz Dresden-Hellerau tatsächlich die Kanäle von ARD und ZDF. Dieser „Erfindergeist und Schlitzohrigkeit“ war bezeichnend für den Umgang vieler DDR-Bürger mit dem Westfernsehen.

Technischer Trick und Alltags-Risiko
Das Beschaffen des Materials war oft die größte Herausforderung, insbesondere Kabel für die Verteilung, während Antennen handelsüblich erhältlich waren und Verstärker selbst gebaut werden konnten. Man holte Kabelreste aus dem Kabelwerk Facha im Grenzgebiet zur Bundesrepublik, wofür sogar Reisegenehmigungen der Polizei erforderlich waren. Der Verein Antenne Hellerau schloss Hunderte von Haushalten an, und alle hielten bei Fragen der Staatssicherheit (Stasi) dicht. Die Anlage wurde am Neujahrstag 1989 eingeweiht, pünktlich zur Wende für besten Westfernsehempfang.

Doch der Empfang von Westfernsehen war nicht ohne Risiko. Bis in die 1970er Jahre war es politisch gefährlich. Viele bauten drehbare Antennen, die tagsüber nach Görlitz (Osten) ausgerichtet wurden, um eine Alibifunktion zu erfüllen, da von der Straße aus sichtbar war, was die Leute sahen. Bei Dunkelheit wurden die Antennen dann zum Westen gedreht – und das jeden Tag. Diese Vorsicht war begründet: Die Stasi war über Westantennen bestens informiert und führte Listen mit Adressen von Bürgern, die von Spitzeln oder „lieben Nachbarn“ als Westfernsehzuschauer ausspioniert worden waren. Während das Ostprogramm in vielen Haushalten abgedreht wurde, hatten die DDR-Sender kaum eine Chance gegen ARD und ZDF. Der „Schwarze Kanal“ mit Karl Eduard von Schnitzler, der westliche Sendungen zerschnitten und verfälscht zeigte, führte meist zum Abschalten. Nur Shows wie „Kessel Buntes“ waren beliebt.

Der Kampf der Stasi gegen die „feindliche Einflussnahme“
Seit 1974 hatten ZDF und ARD Korrespondentenbüros in Ost-Berlin. Die Arbeit der Korrespondenten wurde jedoch durch Verbote und Behinderungen der DDR-Bürokratie erschwert. Das Regime fürchtete die „freie Information“. Die Staatssicherheit brach mehrfach nachts in das ZDF-Büro ein, fotografierte heimlich alles, öffnete die Westgeldkasse und untersuchte sie. „Unabhängige Recherche und kritische Fragen“ wurden von der Stasi als „Agententätigkeit“ eingestuft. Die DDR hatte keine wirkliche Opposition, doch durch Fernsehen und Rundfunk wurden „die Vorzüge der anderen Ordnung“, das „ganze Wirtschaftswunder“ und die Werbung übertragen. Die Korrespondenten fungierten als Sprecher für Missstände, die in den DDR-Medien weniger vorkamen.

Die Stasi beobachtete die Büros von ARD und ZDF von ihrem „Leitstützpunkt Banner“ aus per Monitor. Sechs rot markierte Beobachtungsposten garantierten nahtlose Kontrolle rund um die Friedrichstraße. Die Ergebnisse dieser Überwachung wurden im Operationsvorgang „Bagage – Feindobjekt“ gesammelt, dem Decknamen, den die Stasi dem ZDF gab. Adressen, verdächtige Kontakte und Visitenkarten wurden bei Einbrüchen in Büros oder Wohnungen der Korrespondenten fotografiert. Die Stasi schickte sogar Spitzel als „Bittsteller“ getarnt in die Büros oder Privatwohnungen der Korrespondenten, um zu testen, ob diese bei Ausreiseanträgen behilflich wären – ein klarer Bruch der Journalistenvereinbarung, der zur Ausweisung geführt hätte.

Journalisten als „Dolmetscher“ und „Anstifter“
ZDF-Korrespondent Peter van Loeven wurde nach nur zehn Wochen Arbeit in der DDR ausgewiesen. Er hatte über die Drangsalierung des kritischen Schriftstellers Stefan Heym berichtet. Heyms Bücher erschienen im Westen, da ihm in der DDR ein Berufsverbot auferlegt war, und seine kritischen Aussagen gelangten über westliche Medien zurück in die DDR. Van Loeven drehte eine Erklärung Heyms ohne die dafür notwendige Genehmigung, da Heyms Wohnung abgehört wurde und die Stasi so über alles Bescheid wusste. Diese „klare“ Verletzung der Regeln führte zu seiner sofortigen Ausweisung.

Die Stasi sah die Westkorrespondenten als „vorgeschobene Posten des Feindes im Kampf gegen den Sozialismus“. Tatsächlich aber waren sie „Dolmetscher von Ost nach West und umgekehrt“, die sowohl für die Bundesrepublik als auch gleichzeitig für die DDR selbst berichteten. Dieser „Rückkopplungseffekt“ hatte eine große Bedeutung für die innere Entwicklung der DDR. Die Stasi-Führung beschuldigte die Westkorrespondenten, „Anstifter und Akteure“ der inneren Opposition zu sein – eine Rolle, in die sie „zwangsläufig gerieten“.

Peter Pragal, Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, lebte mit seiner Familie Tür an Tür mit Ost-Nachbarn in der DDR. Er hatte es als schreibender Journalist oft leichter, da er ohne offizielle Genehmigung mit vielen DDR-Bürgern sprechen konnte. Hochinteressante Informationen erhielt er sogar direkt von Stasi-Mitarbeitern in der Sauna, die ihn nicht als „Klassenfeind“ erkannten.

Die Unterstützung der Opposition und das „ZDF Magazin“
Westliche Medienpräsenz bot Schutz für Regimekritiker wie Robert Havemann. Ihm gelang es, seine Schriften in den Westen zu schmuggeln, und er wurde durch das Westfernsehen in der DDR-Bevölkerung nicht vergessen. Auch als Wolf Biermann 1976 nach 11 Jahren Stasi-Isolation im Westen sein legendäres Köln-Konzert gab, schauten in der DDR Hunderttausende zu, sogar „Bonzen der Partei“. Die SED schlug zurück und bürgerte Biermann aus, was zu massiver Empörung in der Parteiführung führte. Auch Havemanns fast prophetisches Testament wurde heimlich von seiner Frau gefilmt und noch Jahre vor dem Mauerfall im ZDF ausgestrahlt, trotz Bewachung durch 200 Stasi-Spitzel.

Kontakte zu Westkorrespondenten waren per Gesetz strafbar. Heinz Niels, ein Regimekritiker, der kritische Schriften verfasste, wurde von der Stasi systematisch verfolgt, nachdem ein Treffen mit Pragal vereinbart war. Er wurde in eine inszenierte Falle gelockt und in Untersuchungshaft genommen.

Das ZDF Magazin setzte sich lautstark mit Hilferufen für Flüchtlinge ein und stritt gegen die innerdeutsche Grenze. Es prangerte die DDR-Grenze als „Tötungsmaschine“ an. Andreas Schmidt kam mit 19 Jahren ins Gefängnis, weil er „Solidarität mit Biermann“ demonstriert hatte. Er hatte das ZDF-Büro in Ost-Berlin besucht, um seinen Ausreisewunsch zu hinterlegen. Die Stasi sah dies als Beihilfe zur „Vorbereitung des Dritten Weltkriegs“. Trotz Zuchthausstrafen ist Schmidt dem ZDF Magazin dankbar, da es ihm half, seine Ausreise zu erzwingen.

Bilder, die die Welt veränderten
Das Westfernsehen zeigte das wahre Gesicht der DDR, wie verfallende Altbauten in Leipzig, die das Scheitern der Planwirtschaft aufzeigten, während das DDR-Fernsehen nur Fassaden und organisierte Begeisterung zeigte. Keine Ost-Kamera hätte beispielsweise Parteifunktionäre oder Stasi bei informellen Anlässen gezeigt, während West-Kameras sogar Feste der DDR-Opposition dokumentierten.

Ein Wendepunkt war der 2. Mai 1989, als Ungarn seine Grenze öffnete. Das ZDF zeigte die Bilder live. Dies wurde von DDR-Zuschauern sofort als „echte Chance zur Flucht“ begriffen. Die Stasi registrierte ein „explosionsartiges Ansteigen von Reiseanträgen nach Ungarn“. Für Zehntausende wurde Ungarn zum Symbol für die Freiheit. Die Westfernsehpräsenz schützte die Flüchtlinge in den Lagern, wie dem der ungarischen Malteser in Budapest, vor Einschüchterungen durch DDR-Behörden. Als Ungarns Außenminister Gyula Horn am 10. September 1989 live im Fernsehen verkündete, dass die Ausreise über Österreich in die Bundesrepublik frei sei, war dies der Anfang vom Ende der DDR.

Die Stasi versuchte, die Fluchtbewegungen zu verhindern, dokumentierte Verhaftungen und sah sich mit Massenanstürmen auf Botschaften konfrontiert. Doch die Fernsehbilder aus Ungarn und Prag machten den Daheimgebliebenen Mut. Trotz Drehverboten für Korrespondenten in Leipzig gelangten Filmaufnahmen der Montagsdemonstrationen in den Westen und wurden in die ganze DDR gesendet. Die Stasi als „Schwert und Schild“ der Partei, die ungezählte Menschen inhaftierte, konnte weder Bild noch Ton abschalten. Das Fernsehen war auf Dauer nicht unter Kontrolle zu bringen.

Die fehlende Organisation der Opposition wurde durch das Westfernsehen und dessen Informationen ersetzt. Es gab einen „Ermutigungs- und Nachahmungseffekt“, der sich bis zu den Parolen der Demonstranten erstreckte. Zwei Tage vor Weihnachten fiel die Mauer am Brandenburger Tor, und das ZDF war live dabei. Die Menschen konnten sich nun ein eigenes Bild vom jeweils anderen Deutschland machen und waren nicht mehr auf den „elektronischen Botschafter Fernsehen“ angewiesen, an dem selbst die Stasi gescheitert war.

Wie ein Experte resümiert: „Was wäre gewesen … wenn es 40 Jahre DDR und 40 Jahre deutscher Zweistaatlichkeit gegeben hätte ohne dieses grenzüberschreitende Medium Fernsehen dazu reicht meine Fantasie nicht aus ich glaube die würden noch jetzt an der Macht sein“. Das Westfernsehen war somit ein entscheidender, vielleicht sogar der wichtigste Faktor für den Fall der Mauer und das Ende der DDR.