Der Schauspieler beschreibt den untergegangenen Staat als ein Atlantis und erklärt, warum eine spezifische ostdeutsche Renitenz bis heute in den politischen Debatten nachhallt.
Wenn Henry Hübchen heute auf die Deutsche Demokratische Republik blickt, wählt er Metaphern des Verschwindens. Für ihn gleicht der vergangene Staat einem versunkenen Schiff, einem Atlantis, das im kollektiven Gedächtnis immer weiter verblasst, bis es in hundert Jahren vielleicht gänzlich unkenntlich geworden sein wird. In einem ausführlichen Gespräch mit Serdar Somuncu reflektiert der Schauspieler, der 1947 geboren wurde und fast sein halbes Leben im Osten verbrachte, über diese doppelte Biografie. Dabei vermeidet er konsequent die üblichen, oft verkürzten Narrative von reinem Opfergang oder plakativem Tätertum. Stattdessen zeichnet er das differenzierte Bild einer Existenz, die sich durch eine spezifische Form der Renitenz und eine pragmatische Anpassung auszeichnete. Hübchen beschreibt seine eigene Rolle im System als die eines „Gauklers“, der für das unmittelbare Funktionieren des Staates – im Gegensatz zu Ärzten, Ingenieuren oder Bauarbeitern – irrelevant genug war, um sich gewisse Freiheiten nehmen zu können.
Ein zentraler, soziologisch hochinteressanter Aspekt seiner Betrachtung liegt in der Analyse der gesellschaftlichen Hierarchien, die er im Kontrast zwischen Ost und West beobachtet. Während er den Westdeutschen in der Freizeit oft als „grünen König“ wahrnahm, der souverän auftrat, sich jedoch im Arbeitsleben oft unterordnete, beschreibt er die ostdeutsche Erfahrung diametral entgegengesetzt. Im privaten Raum, etwa bei der Suche nach einem Platz im Restaurant oder beim Einkaufen von Mangelwaren, herrschte im Osten oft eine gewisse Unterwürfigkeit. Man musste bitten, um zu bekommen. Am Arbeitsplatz jedoch, so analysiert Hübchen, dominierte ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein gegenüber Vorgesetzten. Die faktische Unkündbarkeit und der chronische Mangel an Fachkräften führten zu einer Haltung, in der der Schlosser dem Meister auf Augenhöhe oder gar mit einer gewissen Respektlosigkeit begegnen konnte. Diese im Arbeitsleben erlernte Widerständigkeit sieht er als prägendes Merkmal der ostdeutschen Identität, das weit über das Jahr 1989 hinauswirkt und heutige Verhaltensweisen erklärt.
Der Systemwechsel selbst erscheint in Hübchens Erzählung weniger als traumatischer Bruch, sondern eher als Bestätigung einer bereits vollzogenen inneren Distanzierung. Er spricht von einer „großen Arroganz“, mit der er und viele seiner Kollegen der neuen Ordnung begegneten. Diese Arroganz speiste sich aus dem Wissen, bereits eine Gesellschaftsordnung überlebt und deren Mechanismen durchschaut zu haben. Wer zwei Systeme kennt, so die implizite These, verfügt über einen Erfahrungsvorsprung gegenüber jenen, die ihr Leben lang in stabilen Verhältnissen verbracht haben. Diese Haltung manifestiert sich auch deutlich in der Wahrnehmung aktueller politischer Krisen. Hübchens Skepsis gegenüber dem vorherrschenden Diskurs zum Ukraine-Krieg und seine Unterschrift unter das „Manifest für Frieden“ entspringen dieser Biografie, die offizielle Narrative grundsätzlich hinterfragt. Es ist eine Position, die Diplomatie aus einer historischen Verbundenheit und Erfahrung anders bewertet als der westdeutsche Mainstream, der oft eine linearere Sicht auf Konflikte pflegt.
Auch in seiner Kunst findet Hübchen Parallelen zu dieser Lebensweise und grenzt sich dabei bewusst ab. Er unterscheidet scharf zwischen einer westlich geprägten Schauspieltradition, die er oft als seelischen Exhibitionismus oder Selbsttherapie empfindet, und seinem eigenen, eher handwerklichen Zugang. Für ihn war die Rolle, die Maske, immer ein Schutzraum. Das Verstecken hinter einer Figur – sei es durch eine Clownsnase oder eine Rolle – ermöglichte paradoxerweise die größte Freiheit. Diese Diskretion des Privaten bei gleichzeitiger künstlerischer Exponierung spiegelt die Überlebensstrategie vieler Ostdeutscher wider: Man passte sich ökonomisch an die neuen Verhältnisse an, verkleidete sich gewissermaßen als Bürger der Bundesrepublik, behielt aber im Inneren eine reservierte, beobachtende Haltung bei. Die ostdeutsche Erfahrung ist für Hübchen kein Makel, sondern ein Reichtum – ein Reservoir an Wissen über die Fragilität von Verhältnissen, das ihn davor bewahrt, die Gegenwart als alternativlos zu akzeptieren. Es bleibt das Porträt einer Generation, die im Aussterben begriffen ist, deren prägende Erfahrungen jedoch als unsichtbares Sediment in der gesamtdeutschen Gesellschaft liegen bleiben.