Ein Rückblick auf den August 2010, als das Ernst-Abbe-Sportfeld „Hertha-Blau“ wurde – und eine Analyse, was von dieser Ära heute noch bleibt.
Jena. Wer heute im neuen Ernst-Abbe-Sportfeld, der modernen Ad hoc Arena, auf der Tribüne sitzt, blickt direkt auf das Spielfeld. Die Fans sind nah dran, der Atem der Spieler ist fast spürbar. Doch wer die Augen schließt und das Jahr 2010 heraufbeschwört, sieht ein ganz anderes Bild: Ein leuchtendes, tiefes Blau, das den Rasen weitläufig umrahmt. Es war der August 2010, als Jena sich ein Stück Berliner Olympiastadion ins Paradies holte – eine Maßnahme, die damals als Notwendigkeit galt und aus heutiger Sicht wie der letzte große Atemzug einer vergangenen Sport-Epoche wirkt.
Der heiße August 2010: Ein technischer Kraftakt
Die Bilder aus dem Sommer 2010 erzählen von Schweiß, Präzision und dem bangen Blick zum Himmel. Die alte Laufbahn, 17 Jahre alt und vom Frost der Thüringer Winter zerfressen, war zur Gefahr für die Leichtathleten geworden. Die Lösung: Ein radikaler Schnitt.
Für rund 500.000 Euro ließ die Stadt Jena nicht nur die Oberfläche sanieren, sondern griff tief in die Substanz ein. „Wir mussten bis zu 40 Zentimeter tief den gesamten Unterbau rausnehmen“, berichteten die Bauverantwortlichen damals. 550 Tonnen Asphalt wurden verbaut, mit einem akribischen Gefälle von 0,8 Prozent, damit das Wasser, das in der alten Nordkurve oft stand wie in einem See, endlich abfließen konnte.
Das Ergebnis war spektakulär: Ein Regupol-Belag in „Hertha-Blau“, identisch mit der Bahn, auf der Usain Bolt in Berlin Weltrekorde lief. Es war ein Statement für den Mehrsparten-Sport. Trotz Regenunterbrechungen und dem Zwang, den Spielplan des FC Carl Zeiss Jena zu respektieren, wurde die Bahn im Herbst fertiggestellt.
Analyse: Die Prophezeiung und die Realität
Betrachtet man die Interviews von damals mit dem Wissen von heute (2025), fällt ein Satz besonders auf. Angesprochen auf den damals schon diskutierten Umbau in ein reines Fußballstadion, hieß es 2010 realistisch: „Das ist erstmal wieder in weite Ferne gerückt. In den nächsten vier bis fünf Jahren wird da ohnehin nichts passieren.“
Diese Einschätzung sollte sich als fast schon prophetisch, wenn auch konservativ, erweisen. Aus der heutigen Perspektive lässt sich die Investition von 2010 in drei Punkten analysieren:
1. Die Langlebigkeit des Provisoriums
Die damals prognostizierten „vier bis fünf Jahre“ wurden am Ende zu einem ganzen Jahrzehnt. Erst Ende 2020 begannen die Abrissarbeiten der Nordkurve für den echten Stadionneubau. Die 500.000 Euro teure blaue Bahn war also keine Verschwendung, sondern eine zwingend notwendige Lebensversicherung für den Sportbetrieb in den 2010er Jahren. Sie erkaufte der Stadt die Zeit, die nötig war, um die komplizierte Finanzierung und Planung des heutigen Neubaus überhaupt erst auf die Beine zu stellen.
2. Der Abschied vom Mehrzweck-Gedanken
Der Bau der blauen Bahn war das letzte große Bekenntnis zum klassischen Stadionmodell in der Oberaue. Heute hat sich das Paradigma gewandelt. Der Fußball verlangt nach Nähe, nach Hexenkesseln ohne Laufbahn, um wirtschaftlich konkurrenzfähig zu sein. Die Leichtathletik, einst gleichberechtigter Partner im weiten Rund, hat ihre Heimat auf den Nebenplätzen und in spezialisierten Anlagen gefunden. Die blaue Bahn von 2010 steht symbolisch für die letzte Ära, in der Fußball und Leichtathletik sich denselben Hauptplatz teilten.
3. Was bleibt?
Vom „Hertha-Blau“ ist im Innenraum der neuen Arena nichts mehr zu sehen. Es wurde begraben unter den neuen Tribünen und dem herangerückten Spielfeld. Doch die bauliche Sorgfalt von 2010 – die Korrektur des Untergrunds und die Entwässerung – dürfte den Tiefbauern des aktuellen Stadions zumindest keine bösen Überraschungen mehr bereitet haben.
Die Sanierung im August 2010 war kein Fehler im Angesicht des späteren Abrisses, sondern eine pragmatische Brücke in die Zukunft. Sie ermöglichte den Jenaer Sportlern über zehn Jahre hinweg wettkampftaugliche Bedingungen, während im Hintergrund die Pläne für das neue Gesicht des Ernst-Abbe-Sportfelds reiften. Das Blau ist verschwunden, aber es bleibt ein wichtiger Teil der Stadion-Chronik – als die Farbe einer Übergangszeit, bevor das „Paradies“ endgültig zur reinen Fußball-Hölle wurde.