Der Funktionär – Aufstieg und Fall des Harry Tisch

Es war im Herbst 1988, als das Schweigen zum lautesten Geräusch der DDR wurde. Beim FDGB-Kongress in Berlin trat Harry Tisch, Vorsitzender des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, ans Rednerpult – und blickte in Gesichter, die nichts mehr sagten. Kein Applaus, kein Jubel. Nur ein stilles, müdes Einverständnis, dass die Verbindung zwischen Führung und Basis abgerissen war.

Tisch, einst Schlosser und Paradebeispiel sozialistischen Aufstiegs, war zum Symbol für das geworden, was er verkörpern sollte, aber längst verraten hatte: die Arbeiterklasse. Sein Weg von der Werkhalle in die Sitzungssäle führte ihn tief hinein in den Kern der DDR-Machtmechanik. Er war kein Dogmatiker, kein Ideologe. Er war ein Organisator, ein Funktionär, der die Regeln des Apparats verstand und befolgte – bis zur Selbstaufgabe.

Der FDGB unter seiner Führung war weniger Gewerkschaft als Verwaltungssystem für Loyalität. Wer Ferienplätze, Wohnungen oder Kuren wollte, musste angepasst sein. Versorgung gegen Schweigen – das war der unausgesprochene Vertrag. Tisch perfektionierte diese Logik. Er übersetzte Unzufriedenheit in Statistiken, Mangel in „zeitweilige Versorgungslücken“. Sprache wurde zur Tarnkappe, Verwaltung zum Ersatz für Wirklichkeit.

Doch unter der glatten Oberfläche wuchs der Riss. In den Achtzigern brach das Vertrauen, das System ermüdete – und mit ihm sein oberster Verwalter. Als im Herbst 1989 die Menschen auf die Straßen gingen, war Tisch schon ein Schatten seiner selbst. Im Fernsehen stammelte er Phrasen, denen niemand mehr glaubte – nicht einmal er selbst.

Sein Sturz im November 1989 war kein politisches Erdbeben, sondern ein lautloser Zusammenbruch. Der einstige Machtmensch endete als Figur der Irrelevanz – eine Fußnote, ein Schatten in den Archiven.

Vielleicht liegt genau darin die Lehre seiner Geschichte: Macht endet selten mit einem Knall. Oft endet sie mit einem Satz, den niemand mehr hören will.