Heiner Müller und Jens Reich über Macht und Lüge in der DDR

Heiner Müller und Jens Reich – zwei Denker aus völlig unterschiedlichen Welten, der eine Dichter und Chronist der Macht, der andere Naturwissenschaftler und Bürgerrechtler – kamen in ihrer Analyse der DDR zu einer erstaunlichen Übereinstimmung: Die DDR zerbrach weniger an ökonomischen Schwächen als an ideologischen und semiotischen Widersprüchen. Nicht der Mangel an Geld, sondern der Überfluss an Bedeutungen, Parolen und Symbolen ließ das System implodieren.

Die Nomenklatur – Macht durch Verfügungsgewalt, nicht durch Eigentum
Das Machtgefüge der DDR war kein ökonomisches, sondern ein administrativ-symbolisches System. Wer im Westen durch Kapital verfügte, verfügte im Osten durch Zuteilung. Der Besitz an Produktionsmitteln wurde durch das Vorrecht ersetzt, über deren Nutzung zu entscheiden. Diese Verfügungsgewalt konzentrierte sich in den Händen einer Nomenklatur – jener Funktionärsschicht, die das Monopol über die „letzte Entscheidung“ besaß. Die ökonomische Planung wurde von der Intelligenz vorbereitet, die politische Verantwortung jedoch blieb beim Apparat.

Die Grundlüge – der Staat als „Arbeiter- und Bauernmacht“
Die erste Zeile der DDR-Verfassung war der architektonische Fehler des gesamten Systems. Die Behauptung einer Arbeiter- und Bauernmacht stand in eklatantem Gegensatz zur realen Herrschaft einer akademisch gebildeten Funktionärsschicht. Um diesen Widerspruch zu kaschieren, wurde ein gewaltiger ideologischer Überbau errichtet – ein „Firlefanz“ aus Propaganda, Pädagogik und ritualisierter Begeisterung.

Das Orwell-System per Dekret
Aus dieser Lüge erwuchs ein Kontrollsystem, das Wahrheit als Störung empfand. Jede Form der Authentizität – ob im Theater, in der Literatur oder im Alltag – wirkte wie ein Kurzschluss im falsch gepolten System. Die Zensur war nicht bloß Kontrolle, sondern eine Schutzmaßnahme gegen den Zusammenbruch der Fiktion, auf der der Staat ruhte. Wahrheit war ein gefährlicher Strom, der das System überhitzte.

Die Illusion des Mitregierens
Der bekannte DDR-Witz „arbeite mit, plane mit, regiere mit“ brachte die Grundstörung auf den Punkt. Der Ringfinger – das „Regiere mit“ – ließ sich nie bewegen. Das Neue Forum glaubte 1989 noch, dieser Finger könne sich doch heben, dass das System reformierbar sei. Doch die Verkabelung war so, dass jede Bewegung das ganze Netz sprengte.

Müller und Reich sahen klar: Die DDR war ein Staat, der seine Sprache zu Tode verwaltete. Ihre Macht beruhte nicht auf Eigentum, sondern auf Kontrolle über Bedeutungen – auf der Fähigkeit, Wahrheit in Dekrete zu verwandeln. Doch am Ende war die Wahrheit stärker als die Syntax der Macht.