Es war der 4. November 1989, ein kalter, klarer Tag in Berlin. Auf dem Alexanderplatz standen Hunderttausende – Arbeiter, Künstler, Studenten, Familien. Kein Protest, kein Aufstand, sondern ein Fest. Ein Fest der Worte, der Offenheit, der Hoffnung. Zum ersten Mal durfte man laut aussprechen, was man dachte: dass die DDR sich ändern, erneuern, heilen könne. Jens Reich, Christa Wolf, Stephan Hermlin – sie alle standen auf der Bühne und träumten von einem dritten Weg. Nicht dem des Westens, nicht dem alten des Ostens, sondern einer demokratischen, selbstbestimmten Republik, geboren aus den eigenen Erfahrungen.
Diese Vision war mehr als politische Theorie – sie war ein Lebensgefühl. Man glaubte, das Land selbst aufräumen zu können, ohne die alten Herren und ohne die neuen Gönner. Runde Tische entstanden, Bürgerforen, spontane Komitees. In Städten wie Leipzig, Halle oder Dresden begann man, über alles zu reden, was jahrzehntelang tabu war: Macht, Wahrheit, Verantwortung. Es war, als hätte das Land plötzlich gelernt, sich selbst zu atmen.
Doch die Geschichte atmete schneller. Nur fünf Tage später fiel die Mauer, und mit ihr begann ein Prozess, der alle Hoffnungen verschluckte. Die D-Mark wurde zum Symbol der neuen Zeit, und die Idee einer reformierten DDR wirkte plötzlich wie eine naive Träumerei. Der Westen hatte Antworten, Strukturen, Gesetze – der Osten nur Fragen und den Willen, gehört zu werden.
Jens Reich nannte sich später einen „Sänger der untergehenden DDR“. „Am 4. November waren wir voller Hoffnung, am 9. November schon Geschichte“, sagte er rückblickend. „Ich habe die Maueröffnung verschlafen. Als ich am nächsten Morgen aufwachte und sah, dass der Käfig offen war, empfand ich Befreiung – und zugleich Trauer. Denn das, was wir erneuern wollten, gab es nicht mehr.“
Die Einheit brachte Freiheit – und das Ende eines Traums. Doch wer heute an diesen November denkt, sollte nicht nur an den Mauerfall erinnern, sondern an jene Tage davor, als die DDR noch glaubte, sich selbst retten zu können.