Wenn man an die DDR-Industrie denkt, tauchen meist die gleichen Bilder auf: knatternde Trabanten, graue Plattenbauten und überforderte Kombinate. Doch jenseits dieser Klischees existierten Betriebe, die beeindruckende Leistungen vollbrachten – wirtschaftlich, technisch und organisatorisch. Einer von ihnen war der VEB ZEKIWA in Zeitz, der größte Kinderwagenhersteller Europas.
Ein Industriegigant im Schatten des Trabant
Mitten im Süden des damaligen Bezirks Halle entstand in den 1950er-Jahren ein Werk, das zu einem Symbol der sozialistischen Konsumgüterproduktion werden sollte. ZEKIWA – das stand für „Zeitzer Kinderwagen“ – produzierte Kinderwagen im industriellen Maßstab. Ende der 1970er-Jahre verließen alle acht Sekunden ein fertiges Exemplar die Werkshallen. Für das Jahr 1978 plante das Kombinat 373.000 Stück, 20.000 mehr als im Vorjahr. Rund 40 Prozent blieben im Land, der Rest ging in den Export – bis nach Skandinavien, in die Sowjetunion und nach Westeuropa.
Erfindergeist aus Mangel
Die wirtschaftliche Realität der DDR zwang die Betriebe zu ungewöhnlichen Lösungen. Da Maschinen aus dem Westen kaum erhältlich waren und Devisen knapp blieben, entwickelten die Zeitzer ihre eigenen Fertigungsanlagen. Ingenieure konstruierten automatische Fließreihen für Räder und spezielle „Doppelni-Maschinen“ zur Stoffverarbeitung. Diese Eigenentwicklungen machten ZEKIWA zu einem Vorreiter in der sogenannten „sozialistischen Rationalisierung“ – dem Versuch, Produktivität trotz Mangelwirtschaft zu steigern.
Ein ehemaliger Techniker erinnert sich: „Wir haben jede Schraube zweimal gedreht – aus Not, aber auch aus Stolz. Wenn wir etwas brauchten, das es nicht gab, haben wir es gebaut.“
Im Takt des Baby-Booms
Die Produktion folgte dem Rhythmus der Geburtenstatistik. Ende der 1970er-Jahre galt 1978 als das „geburtenstärkste Jahr seit einem Jahrzehnt“. ZEKIWA reagierte darauf mit Sonderschichten und einer neuen Fließstrecke. Statistisch gesehen fuhr damals jedes zweite DDR-Baby in einem Kinderwagen aus Zeitz. Der Zusammenhang zwischen Familienpolitik und Industrieproduktion wurde nirgendwo so sichtbar wie hier: Kinderwagen waren Staatsauftrag – Ausdruck einer Politik, die junge Familien fördern wollte.
Stolz und Planerfüllung
Trotz Materialknappheit herrschte unter den Beschäftigten ein bemerkenswerter Optimismus. „Wir Zeitzer Kinderwagenbauer waren stets Optimisten, aber auch Realisten“, hieß es in einem internen Bericht. Die Belegschaft verstand sich als Teil eines gemeinsamen Ziels – Planerfüllung war nicht nur Pflicht, sondern auch Ehre. Das Werk galt als Vorzeigebetrieb, der regelmäßig Delegationen aus anderen sozialistischen Ländern empfing.
Vielfalt statt Einheitsgrau
Entgegen dem gängigen Bild von der eintönigen DDR-Produktpalette bot ZEKIWA eine erstaunliche Vielfalt. 47 Modelle liefen 1978 über die Bänder – vom sportlichen Kinderwagen für junge Eltern bis zum Zwillingsmodell. Farben, Formen und Details wurden an Kundenwünsche angepasst. Auch das Design spielte eine wachsende Rolle: klappbare Gestelle, neue Materialien, frische Farben. Kinderwagen „Made in Zeitz“ galten als robust, praktisch – und überraschend modern.
Ein Blick auf die andere Seite der Planwirtschaft
Die Geschichte von ZEKIWA ist mehr als ein nostalgischer Rückblick. Sie zeigt, dass die DDR-Wirtschaft komplexer war, als das Bild vom grauen Mangelstaat vermuten lässt. Hier arbeiteten Menschen mit Ideen, Stolz und technischer Kompetenz – oft unter schwierigen Bedingungen, aber mit beachtlichen Ergebnissen.
Alle acht Sekunden ein Kinderwagen – diese Zahl steht für die Leistungsfähigkeit eines Systems, das im Kleinen oft mehr schaffte, als ihm die Geschichte im Rückblick zutraut.
ZEKIWA Zeitz – Zahlen und Fakten
Gründung: 1946 (aus den früheren Hermann-Schmidt-Werken)
Name: Zeitzer Kinderwagen – abgekürzt ZEKIWA
Beschäftigte: bis zu 4.000
Produktion 1978: 373.000 Kinderwagen
Exportanteil: rund 60 %
Modelle: 47 verschiedene Varianten
Nach 1990: Privatisierung, Teilstilllegung, später neue Produktion im kleineren Maßstab