Die deutsche Wirtschaft steckt in der längsten Rezession seit 20 Jahren, doch für Professor Hans-Werner Sinn, Deutschlands Top-Ökonom, ist dies mehr als eine gewöhnliche Konjunkturflaute. Im Gespräch mit BÖRSE ONLINE spricht Sinn von einem und einem schleichenden Niedergang seit 2018. Seine Analyse ist eine scharfe Kritik an der aktuellen Politik und dem mangelnden ökonomischen Verständnis in weiten Teilen der Bevölkerung und den Medien.
Mangelndes Verständnis und Investitionsaversion Professor Sinn diagnostiziert Deutschland als „Land der ökonomischen Analphabeten“ im Vergleich zur angelsächsischen Welt, wo wirtschaftliches Grundwissen stärker verbreitet sei. Diese mangelnde Einsicht trage dazu bei, dass notwendige Kehrtwenden in der Politik nicht rechtzeitig eingeleitet werden. Seit 2018 sei ein „großer Adventismus der privaten Investoren in Deutschland“ zu verzeichnen, da Wirtschaftsbosse Deutschland auf dem falschen Weg sehen. Dieser Investitionsrückgang erkläre den wirtschaftlichen Abstieg.
Kritik an Energie- und Sozialpolitik Als Hauptursachen für diesen Strukturbruch nennt Sinn politische Weichenstellungen, allen voran die Energiepolitik. Er kritisiert eine „verheerende Verbotspolitik“ im Bereich Energie und Klima, die alles abwürge und unrealistische Hoffnungen auf Wachstum zulasse. Als Beispiel führt er das Verbrennerverbot an, das er schon früh als Fehlentwicklung bezeichnete und dessen negative Auswirkungen auf die Autoindustrie sich nun bestätigen. Laut Sinn werde der Umstieg auf E-Autos in Europa durch Flottenverbrauchsformeln der EU erzwungen, die E-Autos mit einem CO2-Ausstoß von Null ansetzten – eine „aberwitzige Schummelei“, da die Stromproduktion überwiegend noch auf fossiler Energie basiere. Die Folgen sind bereits spürbar: Nach Volkswagen sieht Sinn auch die Chemieindustrie, wie BASF, auf dem Abzug begriffen, da Unternehmen kein Interesse mehr hätten, in einer zunehmend „dirigistischen“ und regulierten Welt zu investieren.
Ein weiterer Kritikpunkt ist der Sozialstaat, der in den Merkel-Jahren die Schröder’schen Reformen rückabgewickelt habe. Sinn kritisiert insbesondere das Bürgergeld, das Menschen ohne Arbeitsleistung unterstütze. Er betont, dass jeder Mensch arbeiten müsse, um Wohlstand zu finanzieren, und schlägt vor, das Bürgergeld in einen „Lohn für Arbeit“ umzuwandeln, eventuell auch für einfache Tätigkeiten in den Gemeinden.
Demografische Zeitbombe und Rentensystem Das Versäumnis, auf den langfristigen Trend der Alterung der Bevölkerung und die „Kinderarmut“ zu reagieren, sei ebenfalls gravierend. Die Babyboomer-Generation, die kurz vor dem Renteneintritt stehe, wolle Renten von Kindern, die nicht da seien – eine Rechnung, die „schiefgeht“. Sinn warnt davor, dass die Sozialsysteme bei Beibehaltung des Status quo nur noch wenige Jahre aufrechterhalten werden können. Er fordert, dass die Menschen länger arbeiten und das Renteneintrittsalter an die Lebenserwartung geknüpft werden müsse.
Das aktuelle Umlagesystem der Rente sei nicht nachhaltig. Sinn kritisiert Bismarcks Einführung der Rentenversicherung 1889, die zwar das Los alter Menschen ohne Kinder verbesserte, aber auch einen Bewusstseinswandel einleitete, der das Kinderkriegen weniger notwendig erscheinen ließ. Er sieht darin eine „Versicherung gegen Kinderlosigkeit“, die die Investition der Eltern in ihre Kinder „sozialisiert“ und somit die Anstrengung zur Familiengründung vermindert habe. Sinn plädiert für weniger Staatseingriffe in dieser Hinsicht, anstatt eine „doppelte Intervention“ durch Kindergeld und Kitas zu betreiben.
Vorschläge für eine Kehrtwende Für eine potenzielle neue Bundesregierung formuliert Sinn klare Forderungen:
• Stopp der Energiewende, bis andere Länder ebenfalls mitziehen, und Konzentration auf Maßnahmen, die unilateral wirken, wie die Abscheidung und Speicherung von CO2 (Sequestrierung) und der Verzicht auf den Abbau eigener fossiler Brennstoffe. Er plädiert für eine Wiederbelebung der Atomkraft, deren Comeback weltweit zu beobachten sei.
• Mobilisierung der 3 Millionen Bürgergeld-Bezieher durch Umwandlung des Bürgergeldes in einen „Lohn der Kommunen für kommunale Arbeit“.
• Sofortiges Angehen des Rententhemas durch Abschaffung frühzeitiger Verrentungsmöglichkeiten und die Einführung eines flexiblen Rentensystems, das längeres Arbeiten belohnt. Sinn warnt zudem davor, die Wirtschaft durch weitere Schulden zu beleben, da Deutschland keine freien Kapazitäten, sondern Fachkräftemangel und zu wenig Energie habe, was nur die Inflation anheizen würde.
Globale Einflüsse und ein Funken Hoffnung Die Politik der USA unter Donald Trump, die auf Zölle und die Stärkung des Dollars abzielt, werde Deutschland und Europa weiter unter Druck setzen. Sinn prognostiziert, dass Trumps Politik, die auch eine Rückkehr zu traditionellen Werten und eine Abkehr von Konzepten wie „Work-Life-Balance“ oder „Wokeness“ bedeute, auf Europa ausstrahlen werde. Deutschland müsse sich nach alternativen Märkten umschauen und Freihandelsabkommen abseits der USA entwickeln, um sich zu behaupten.
Trotz seiner pessimistischen Einschätzung äußert Professor Sinn einen Funken Hoffnung. Er sieht einen „allmählichen Bewusstseinswandel“ in der deutschen Bevölkerung, der sich auch im Aufkommen neuer, „rechtsradikaler“ Parteien am politischen Rand zeige. Dies zwinge die etablierten Parteien der Mitte, ihre Programme zu ändern und sich wieder stärker an der Realität zu orientieren. Die Rückbesinnung auf Eigentumsrechte und das Verständnis einer Nation als „Club“, in den man nicht einfach so einwandern könne, seien notwendige Schritte für eine funktionierende Gesellschaft.