Gerd Weber war in der DDR ein gefeierter Fußballstar. Mit Dynamo Dresden wurde er Meister und Pokalsieger. Ein besonderer Höhepunkt seiner Karriere war der Gewinn der Goldmedaille bei den Olympischen Spielen 1976. In den späten 1970er Jahren, insbesondere um 1978, war er als Teil des Dynamo-Kollektivs und neben Kapitän Dixie Dörner vom Team nicht wegzudenken und hatte großen Anteil daran, dass Dresden zum dritten Mal in Folge DDR-Meister wurde – ein Novum im DDR-Fußball. Im Mittelfeld trieb Weber das Spiel voran und war auch als Torschütze erfolgreich.
Doch 1980 begann die Wende in seinem Leben. Als Nationalspieler spielte er trotz Verletzung für die Mannschaft. Am Ende der Halbserie wurde ihm daraufhin das Geld vom Trainer und Vorstand gekürzt. Weber versuchte zu erklären, dass er sich ein halbes Jahr lang für die Mannschaft und den Verein Spritzen geben ließ. Er verstand diese Entscheidung nicht und wollte sich das nicht bieten lassen. Am liebsten wäre er sofort weg von Dresden gewesen und liebäugelte mit einem Wechsel zum BFC Dynamo. Er nahm Kontakt auf, weil dies die einzige Möglichkeit schien, weiterhin erfolgreich Fußball zu spielen, da er sowieso nicht woanders hingehen oder dürfen hätte.
Anfang 1981 wurde Weber dann über Nacht vom Spitzensportler zum Staatsfeind. Ausgelöst wurde dies am Rande von Europapokalspielen im Herbst zuvor in Entscheid (Niederlande) und Lüttich (Belgien). Ein vermeintliches Angebot vom 1. FC Köln soll versucht haben, die Dresdner Nationalspieler Weber, Dörner und Müller in die Bundesliga zu locken. Als die Stasi davon erfuhr, wurden die drei unmittelbar vor dem Abflug zu einer Wettkampfreise nach Südamerika am Flughafen Berlin-Schönefeld verhaftet.
Weber wusste sofort, was Sache war. Wegen geplantem ungesetzlichen Grenzübergangs wurde er zu zwei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Als Häftling in Frankfurt (Oder) verlor er seinen Namen und war nur noch eine Nummer. Er musste im Gefängnis abtrainieren und trainierte jeden Abend auf dem Ergometer. Nach elf Monaten wurde er entlassen.
Nach der Haft war Fußball für ihn passé. Er durfte das Dynamo-Stadion nicht mehr betreten und auch sein Sportstudium nicht fortführen. Das Leben in der DDR wurde zur Sackgasse ohne jede Perspektive. 1986 stellte Weber den ersten Ausreiseantrag, unzählige weitere sollten folgen. Man sagte ihm, sie seien stolz, dass sie zusammen seien und er nicht rauskomme.
Doch im Frühjahr 1989 ergab sich ein Hoffnungsschimmer. Der ehemalige Fußballer, der in Dresden als Kfz-Mechaniker sein Geld verdiente, erhielt überraschend ein Visum für Ungarn, wohin er bis dahin nur reisen durfte. Dann ging alles sehr schnell. An der Grenze von Ungarn zu Österreich tat sich das erste Loch im Eisernen Vorhang auf. Erste DDR-Bürger flohen in die Bundesdeutsche Botschaft in Budapest, und immer mehr versuchten, über die „grüne Grenze“ in den Westen zu gelangen.
Weber beriet sich am Balaton mit seiner Frau Anja und Bekannten. Um Gerüchte zu überprüfen, fuhren sie nach Budapest und fragten in der BRD-Botschaft nach, ob ergriffene DDR-Bürger noch ausgeliefert würden. Zweifel mischten sich in die Fluchtpläne: Was, wenn es schiefging? Dann ging es entweder zurück, und als Rückfalltäter wäre das wahrscheinlich sehr unangenehm geworden.
Anfang August entschieden sie sich: Wir versuchen es. Sie fuhren Richtung Grenze, ließen dort ihr Auto stehen und warteten auf Einbruch der Dunkelheit. In der Nähe der Grenze, etwa 400 bis 500 Meter vom Grenzzaun entfernt, wurden sie Zeuge eines Dramas: Rumänen rannten in die Fangzäune und wurden „einkassiert“, die Grenzsoldaten leuchteten mit Taschenlampen und waren mit Maschinenpistolen unterwegs. Die Webers blieben im Wald und wurden von ungarischen Grenzern entdeckt. Als sie sich ausweisen mussten und die ungarischen Grenzer ihren blauen Ausweis sahen, ließen sie sie höflich weitergehen. Die Ungarn wünschten ihnen viel Glück. Offiziell wurde für seine Frau und das Kind eine Schlafgelegenheit im Büro der Grenzer bereitgestellt, Weber selbst musste mit den Rumänen in einem Zelt schlafen. Sie hatten das Gefühl, dass die Ungarn im Wandel waren.
Sie wussten genau, dass sie es nochmal versuchen mussten, allerdings nicht am helllichten Tag. Sie warteten erneut auf Einbruch der Dunkelheit. Am Grenzübergang gingen sie vielleicht zwei- oder dreihundert Meter zur Seite, dann in ein Getreidefeld. Sie wateten etwa 400 Meter durch das Feld, sahen dann ein deutsches ADAC-Holzschild und schließlich ein österreichisches Schild. Da wussten sie, dass sie in Österreich waren.
Gut eine Woche später berichtete die Bild-Zeitung nicht nur über seine Flucht. Der Redakteur half ihnen auch beim Neustart. So landete Gerd Weber mit seiner Familie in Friesenheim im Schwarzwald, wo sie heute noch leben.
Die Entscheidung vom Sommer 1989 hat er nie bereut. Auch wenn er im Nachhinein zugeben muss, dass es ein bisschen leichtsinnig war, da sie ein sechsjähriges Kind dabeihatten und nicht wussten, wie die bewaffneten Organe reagieren würden. 30 Jahre später teilt sich sein Leben etwa zur Hälfte in Ost und West. Inzwischen ist der 63-Jährige als Schadenbearbeiter bei einer Kfz-Versicherung tätig. Auch ohne den Fußball hat Gerd Weber letztlich sein Glück gefunden.
30 Jahre lang hat Gerd Weber seine Geschichte für sich behalten, auch die Einzelheiten seiner Flucht im August 1989. Jetzt erzählt er sie zum ersten Mal.