Schiffshebewerk Wüsteneutzsch: Leipzigs Jahrhunderttraum vom Meer erwacht neu

Leipzig. Zwischen den sanft geschwungenen Ufern des Saale-Leipzig-Kanals erhebt sich eine stilisierte Betonruine, Zeugnis vergangener Großträume und gleichsam Beginn einer neuen Ära: Das Siegerprojekt für das Schiffshebewerk Wüsteneutzsch von dem jungen Architekten Dirk Schneider verspricht, den Jahrhundertplan einer Wasserstraße von Leipzig bis zur Elbe wiederaufleben zu lassen.

Ein Kanal, halbvollendet – und doch so vielversprechend
Der Saale-Leipzig-Kanal, ein 20 Kilometer langer Seitenarm des Mittellandkanals, wurde vor gut hundert Jahren in Angriff genommen, um Leipzig endlich an das transkontinentale Wasserstraßennetz anzuschließen. Elf Kilometer Nord-Süd-Verbindung und eine modernisierte Saale mit monumentalen Schleusen erschienen greifbar. Doch Kriege und Wirtschaftskrisen ließen das Projekt in einem Dornröschenschlaf zurück. Heute mutet die Anlage wie eine „geheimnisvolle Ruine mitten im Nichts“ an – ein Hafen ohne Schiffe, ohne Frachter, ohne Krähen.

Neuer Wind 2022 in Leipzig
Im Herbst 2022 lud die Stadt Leipzig im Rahmen der World Canals Conference erstmals in Deutschland internationale Wasserbau-Expertinnen und -Experten ein. Dort präsentierten Studierende aus ganz Europa im Wettbewerb visionäre Entwürfe für ein neues Hebewerk im Wüsteneutzscher Sohlgleitbereich. Den Zuschlag erhielt der 27-jährige Diplom-Ingenieur Dirk Schneider aus Dresden: Sein Konzept vereint Technik und Landschaftsarchitektur auf beeindruckende Weise.

„Wir haben die Betonruine der alten Schleuse von 1943 nicht als Makel, sondern als Fundament betrachtet“, erklärt Schneider. „Unser Ziel war es, eine Brücke zwischen Historie und Zukunft zu schlagen – ein Schiffshebewerk, das 22 Meter Höhenunterschied spielerisch überwindet und zugleich zum Landmark-Objekt entlang des Kanals wird.“

Technik trifft Ästhetik
Der Entwurf sieht zwei parallel angeordnete Tauchkästen vor, in denen Sport- und Ausflugsschiffe sanft abgesenkt und gehoben werden. Ein Gegengewichtssystem aus Wasserballast soll die Energieeffizienz maximieren. Dank Photovoltaik-Module auf den Dachflächen und einer Solarthermie-Anlage an der Fassade könnte das Hebewerk nahezu CO₂-neutral betrieben werden. Architektonisch rahmen geschwungene Stahlbögen – angelehnt an die historischen Stahlträger früherer Kanalbrücken – das Bauwerk ein, das sich harmonisch in die umgebende Kulturlandschaft einpasst.

Wasserwandern zwischen Braunkohle-Seen
Die Initiative für den Ausbau des Saale-Leipzig-Kanals ist Teil einer größeren Transformation Mitteldeutschlands. Wo einst Braunkohlebagger den Boden aufrissen, ist heute eine spektakuläre Seenlandschaft entstanden. Sanierte Uferpromenaden, Radwege und Naturschutzinseln locken Touristen und Einheimische. Nun könnte die Wasserachse Leipzig–Saale eine neue Attraktion für den Wassertourismus werden. „Freizeitkapitäne, Kanuten und E-Boot-Betreiber träumen schon von einer durchgehenden Verbindung bis zur Elbe“, sagt Martina Reiche, Geschäftsführerin der Mitteldeutschen Wasserstraße GmbH. „Das Hebewerk Wüsteneutzsch wäre das Herzstück dieses Zukunftsprojekts.“

Regionale Wertschöpfung und Lebensqualität
In der Metropolregion Mitteldeutschland – einem Ballungsraum mit rund 2,8 Millionen Menschen – wird das Schiffshebewerk nicht nur touristische Impulse setzen. Lokale Handwerksbetriebe und Zulieferer könnten beim Bau und späteren Betrieb des Hebewerks Aufträge generieren. Bildungsangebote für Wasserbau, nachhaltige Technik und Tourismusmanagement sind in Planung, ebenso wie Veranstaltungsformate rund um das Hebewerk. Schon heute plant die Stadt Wüsteneutzsch ein jährlich stattfindendes „Kanal-Festival“, das mit Kulturperformances, Bootsparaden und regionalen Märkten Besucher in die Region locken soll.

Finanzierung und Ausblick
Die geschätzten Baukosten belaufen sich auf rund 45 Millionen Euro. Förderanträge bei Bund, Freistaat Sachsen und EU-Strukturfonds sind in Vorbereitung. Erste Pilotboote sollen bereits 2028 durch das Hebewerk gefahren werden. Vollendet wäre damit ein Stück deutscher Wasserbaugeschichte, längst vergangene Träume Leipzigs auf dem Weg zum Meer neu beflügelnd.

Ein Traum erhält ein Gesicht
Wo jahrzehntelang nur der Wind durch verwaiste Schleusenkammern pfiff, könnte bald wieder Schiffsglocken-Geläut erklingen. Der Siegerentwurf Dirk Schneiders macht Hoffnung, dass Leipzigs Jahrhunderttraum vom Anschluss ans Meer im 21. Jahrhundert Wirklichkeit werden kann – als zeitgemäßes Projekt für Lebensqualität, Klimaschutz und regionale Entwicklung. Ein kleines Wunder aus Beton und Stahl, das im Schatten der Vergangenheit den Blick in eine verheißungsvolle Wasser-Zukunft öffnet.

Anzeige
Beitrag finden? Einfach die Suche nutzen!