In einer Zeit, in der Rechtsextremismus in Europa erstarkt, Verschwörungsmythen blühen und die Grenzen des Sagbaren verschoben werden, stehen Orte der Erinnerung an die NS-Verbrechen im Zentrum eines gesellschaftlichen Kampfes. Gedenkstätten wie Buchenwald, Bergen-Belsen oder Dachau sind längst nicht mehr nur Friedhöfe der Vergangenheit – sie sind zu Foren der Demokratiebildung geworden, die gegen Geschichtsrevisionismus und Hass mobilisieren. Doch dieser Auftrag wird zunehmend gefährdet: durch physische Angriffe, digitale Hetze und eine politische Kultur, die extremistische Narrative duldet.
Gedenkstätten als Bollwerk gegen das Vergessen
Die Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald am 11. April 1945 markiert einen Schlüsselmoment der Erinnerungskultur. Jens-Christian Wagner, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, beschreibt die damalige Situation als „Befreiung von innen und außen“: Während die SS floh, übernahmen politische Häftlinge die Kontrolle, kurz bevor US-Truppen eintrafen. Doch dieser historische Fakt wurde in der DDR zum Mythos der „Selbstbefreiung“ verklärt – ein Beispiel dafür, wie Erinnerung instrumentalisiert werden kann.
Heute dienen Gedenkstätten einer anderen Aufgabe: Sie sind Archive des Grauens, die Beweise gegen Leugnung und Verharmlosung sichern. In Buchenwalds Archiv lagern über eine Million Dokumente – Todeslisten, SS-Berichte, Häftlingsbriefe. „Jedes dieser Papiere widerlegt die Behauptung, der Holocaust sei eine Erfindung“, betont Wagner. Doch diese Beweiskraft wird angegriffen. Neonazis sägten in Weimar 50 Gedenkbäume ab, die für ermordete Häftlinge gepflanzt wurden. „Das ist ein symbolischer Mord – als würde man die Opfer ein zweites Mal töten“, so Wagner.
Die neue Welle des Rechtsterrorismus: Von Drohbriefen bis zur AfD
Die Angriffe auf die Gedenkkultur sind vielfältig:
Physische Gewalt: Hakenkreuze auf Gedenktafeln, zerstörte Ausstellungen, Brandsätze.
Digitale Hetze: Nach einer Kampagne der AfD gegen die Gedenkstätte Buchenwald erhielt Wagner Morddrohungen – darunter ein manipuliertes Foto, das ihn am Galgen zeigt.
Politische Unterwanderung: Die AfD verbreitet geschichtsrevisionistische Narrative, um ihre Agenda zu legitimieren. Björn Höcke spricht vom „Denkmal der Schande“ in Berlin, AfD-Abgeordnete wie Hans-Thomas Tillschneider relativieren die NS-Verbrechen als „Vogelschiss“.
Besonders perfide ist die Strategie, Alliiertenverbrechen mit dem Holocaust gleichzusetzen. Der Mythos der „Rheinwiesenlager“ – eine angebliche Million ermordeter deutscher Kriegsgefangener 1945 – wird gezielt gestreut, um eine Täter-Opfer-Umkehr zu inszenieren. „Solche Mythen sind kein Zufall“, sagt Wagner. „Sie sollen die deutsche Schuld relativieren und die Erinnerungskultur diskreditieren.“
Die Mitte als Komplizin? Wie Politik und Medien extremistische Narrative normalisieren
Doch der Rechtsextremismus gedeiht nicht im luftleeren Raum. Wagner kritisiert eine „Kultur des Wegschauens“ in der Gesellschaft – und eine Politik, die sich an AfD-Narrativen orientiert. Das CDU-Wahlprogramm 2025 erwähnt den Nationalsozialismus kaum, stattdessen wird „Identität“ beschworen. Thüringens CDU verhandelt mit der AfD über Posten wie die Wahl des geschichtsrevisionistischen AfD-Abgeordneten Hansjörg Prophet zum Landtagsvizepräsidenten – ausgerechnet am Tag nach der Gedenkfeier für NS-Opfer.
„Wenn demokratische Parteien mit Rechtsextremen paktierten, verraten sie die Überlebenden“, sagt Wagner. Auch Medien tragen Mitverantwortung: Indem Migration pauschal als „Sicherheitsrisiko“ gerahmt wird, übernehmen Redaktionen unbewusst die Rhetorik der extremen Rechten.
Bildung als Waffe: Wie Gedenkstätten gegen Mythen kämpfen
Gegen diese Flut an Desinformation setzen Gedenkstätten auf Aufklärung. Die Website geschichte-statt-mythen.de entlarvt Legenden wie die angeblichen „linken Nationalsozialisten“ oder den „Bombenholocaust“. In Workshops lernen Jugendliche, wie sie Hate Speech erkennen – und warum Sätze wie „Die Opfer von Dresden waren wie die von Auschwitz“ nicht nur falsch, sondern gefährlich sind.
Doch die Ressourcen sind knapp: „Wir haben 1,5 Stellen für ein Archiv mit Millionen Dokumenten“, klagt Wagner. Innovative Formate wie Virtual-Reality-Touren durch das historische Lager oder TikTok-Videos, die Opferbiografien erzählen, könnten junge Generationen erreichen – doch dafür fehlt oft das Geld.
Verbot der AfD? Eine demokratische Zwickmühle
Die Debatte um ein AfD-Verbot spaltet die Gesellschaft. Wagner unterstützt eine Prüfung, warnt aber vor den Risiken: „Ein gescheitertes Verfahren würde die AfD als Märtyrer stilisieren.“ Dennoch sei klar: „Wer die Würde der Opfer verhöhnt, wer die Lehren aus Auschwitz leugnet, gefährdet das Fundament unserer Demokratie.“
Rechtsexperten verweisen auf die NPD-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 2017: Die Partei durfte nicht verboten werden, weil sie als „politisch bedeutungslos“ galt. Bei der AfD, die in Umfragen bei 20 % liegt, wäre diese Logik absurd. Ein Verbot müsste daher nicht nur ihre Verfassungsfeindlichkeit beweisen, sondern auch klären, wie ihre Wähler:innen in die Demokratie zurückgeholt werden können.
Zivilcourage im Alltag: Warum Schweigen keine Option ist
Doch Gesetze allein reichen nicht. Wagner appelliert an die Zivilgesellschaft: „Jede:r kann im Alltag Zeichen setzen.“ Er erzählt von einem Abend in einer Weimarer Pizzeria, als NS-Lieder aus einer Wohnung dröhnten. Erst nach seinem Anruf bei der Polizei wurde die Musik abgestellt – doch die anderen Gäste hatten geschwiegen. „Warum meldet sich niemand? Warum dulden wir solche Provokationen?“
Es sind oft kleine Gesten: Eine Lehrerin, die mit ihrer Klasse Stolpersteine putzt. Ein Rentner, der rechtsextreme Schmierereien übermalt. Oder Social-Media-Nutzer:innen , die Hasskommentare melden statt zu ignorieren. „Demokratie lebt davon, dass wir sie täglich verteidigen – nicht nur am 27. Januar“, sagt Wagner.
Schluss: Erinnerung ist kein Ritual – sie ist ein Auftrag
Die Angriffe auf die Gedenkkultur offenbaren eine gesellschaftliche Schieflage: Während Überlebende wie Esther Bejarano oder Anita Lasker-Wallfisch bis zuletzt vor Rechtsextremismus warnten, verdrängen viele Deutsche die Kontinuitäten des Hasses. Doch Gedenkstätten sind keine Museen der Schuld – sie sind Labore der Zukunft.
In Buchenwald arbeiten Freiwillige aus ganz Europa zusammen, darunter Nachfahren von Tätern und Opfern. Sie pflegen das Gelände, führen Zeitzeugengespräche – und diskutieren über Antisemitismus heute. „Hier lernen junge Menschen, was passiert, wenn Menschenrechte verhandelbar werden“, sagt Wagner.
Am Ende geht es um mehr als die Vergangenheit. Es geht darum, wer wir sein wollen: Eine Gesellschaft, die wegschaut, wenn Unrecht geschieht? Oder eine, die aus der Geschichte lernt – und sich traut, laut „Nie wieder!“ zu sagen, wenn es darauf ankommt? Die Antwort liegt bei uns allen.