Die DDR ist von gestern? Darüber reden wir noch heute. Die Erinnerung an die Zeit der Deutschen Demokratischen Republik, insbesondere die Jahre unter der Herrschaft der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), lebt in vielen Gesprächen weiter. Die Erlebnisse der Zeitzeugen sind unvergessen und oft von ambivalenten Gefühlen geprägt. Ich erinnere mich gut an den Abend des 20. Oktobers 1989, als wir in Mühlhausen in Thüringen in unserem Büro saßen. Die Fenster waren verdunkelt, und es war bereits spät am Abend, als wir von weitem die Sprechchöre der Demonstranten hörten, die sich unserer Kreisdienststelle näherten. Ihre Rufe – „Stasi raus!“, „Stasi in die Volkswirtschaft!“ – hallten in der Dunkelheit wider. Es war eine äußerst beklemmende Atmosphäre, eine, die ich in meiner über 30-jährigen Dienstzeit bei der Staatssicherheit nie zuvor erlebt hatte.
Der Mauerfall, der in den kommenden Wochen die politische Landschaft der DDR grundlegend verändern sollte, war zu dieser Zeit noch weit entfernt. Doch in Mühlhausen war der Wind der Veränderung bereits zu spüren. Was zunächst wie ein unbedeutender Vorbote wirkte, sollte sich bald zu einem landesweiten Umbruch entwickeln. Der Ruf nach der Auflösung der Stasi und der Rettung von Akten, die noch der Vernichtung entgangen waren, wurde lauter und drängender. Doch der Weg, der zum Sturz der Staatssicherheit führte, war lang und von Misstrauen, Angst und Überwachung geprägt.
Obwohl die Existenz der Staatssicherheit in der DDR allgemein bekannt war, blieben die genauen Ausmaße ihrer Aktivitäten und ihre Methoden weitgehend im Dunkeln. Als die Mauer fiel und die Bürger der DDR begannen, nach den Spuren ihrer eigenen Überwachung zu suchen, kamen Berge von Akten zum Vorschein. 111 Regalkilometer an Schriftstücken, mehr als 30.000 Video- und Audiodokumente sowie rund 41 Millionen Karteikarten – das war nur ein Bruchteil dessen, was die Stasi an Informationen gesammelt hatte. Informationen, die sie mit dem Ziel erhob, über alles und jeden Bescheid zu wissen. Denn Wissen war Macht, und Kontrolle war das Ziel.
Die Staatssicherheit war nicht einfach eine Geheimpolizei, sondern das Werkzeug der SED, das als „Schild und Schwert der Partei“ fungierte. Ihre Aufgabe war es, jede noch so kleine Gefahr für die Herrschaft der Sozialisten zu unterdrücken und denjenigen, die sich gegen das System stellten, das Leben schwer zu machen. Dabei war die Methode der Stasi simpel und effektiv: Wer einmal ins Visier der Behörde geriet, wurde bis ins kleinste Detail überwacht. Das galt nicht nur für politisch auffällige Bürger oder Oppositionsgruppen, sondern auch für die eigenen Reihen. Niemand war sicher vor der allgegenwärtigen Kontrolle der Stasi.
Ich erinnere mich an eine Zeit, als mein Mann und ich plötzlich das Gefühl hatten, dass wir nicht mehr allein waren. Immer wieder tauchten die gleichen Autos hinter uns auf oder fuhren uns voraus. Es war ein unangenehmes Gefühl, als wir merkten, dass wir überwacht wurden. Unser Verdacht bestätigte sich, als wir eines Tages in einen Waldweg abbogen und 20 Minuten verharrten. Als wir wieder aus dem Weg herausfuhren, tauchte das gleiche Auto hinter uns auf. Es war offensichtlich – wir waren Ziel einer Überwachung durch die Stasi.
Der Grund für diese plötzliche Aufmerksamkeit der Staatssicherheit war schnell klar. Kurz zuvor hatten wir einen Ausreiseantrag gestellt. Was für uns als einfacher Wunsch nach einer besseren Zukunft erschien, wurde von der Stasi als staatsfeindlicher Akt gewertet. Ab diesem Moment wurden wir im Rahmen eines „operativen Vorgangs“ von der Geheimpolizei überwacht. Wir erfuhren aus verschiedenen Quellen, dass in unserem eigenen Umfeld sogar ein inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit arbeitete, der uns genau beobachtete und Berichte über unser Verhalten an die Stasi weiterleitete.
Was für uns und viele andere Bürger der DDR eine erschreckende Entdeckung war, war für die Stasi Alltag. Die Zahl der inoffiziellen Mitarbeiter, die der Staatssicherheit berichteten, war enorm. Sie bildeten ein Netz aus Spitzeln, das sich in alle Bereiche des Lebens zog. Viele dieser inoffiziellen Mitarbeiter arbeiteten auf freiwilliger Basis, manche wurden jedoch durch Drohungen oder Erpressungen gezwungen, für die Stasi zu spionieren. Diese Mitarbeiter waren nicht nur in der Lage, Informationen zu sammeln, sondern hatten auch die Befugnis, Wohnungen zu durchsuchen, Besitz zu konfiszieren und sogar Verhaftungen vorzunehmen. Wer sich weigerte, konnte ins Visier der Staatsmacht geraten und in einer der zahlreichen Untersuchungshaftanstalten verschwinden.
Das System der Überwachung war so ausgebaut, dass es fast unmöglich war, der Stasi zu entkommen. Oft genügte schon eine kritische Bemerkung über das Regime, ein unauffälliges Gespräch über die westliche Lebensweise oder sogar das Hören von westlicher Musik, um in den Fokus der Stasi zu geraten. Aber es waren nicht nur die politischen Gegner, die im Visier der Staatssicherheit standen. Die Stasi überwachte und kontrollierte auch das eigene Volk – die Parteiangehörigen, die Bürger, die einfach nur ihre Meinung äußerten oder versuchten, ein anderes Leben zu führen.
Das erklärte Ziel der Stasi war es, jegliche Form von Widerstand oder Kritik im Keim zu ersticken. Die Methoden, mit denen sie dies versuchte, reichten von psychologischer Manipulation bis hin zur Zersetzung von Oppositionellen. In vielen Fällen wurde versucht, die betroffenen Personen zu isolieren und zu verunsichern, sodass sie sich nie wieder gegen das Regime auflehnten. Zersetzungsmaßnahmen beinhalteten unter anderem das Einschleusen von Spitzeln in Gruppen oder das gezielte Verbreiten von Gerüchten, um das Vertrauen in oppositionelle Bewegungen zu zerstören.
Die Ausmaße dieser Überwachungsmaßnahmen sind kaum zu fassen. Bis Ende 1989 beschäftigte die Stasi über 90.000 hauptamtliche Mitarbeiter – das entspricht einem Stasi-Mitarbeiter auf 180 DDR-Bürger. Hinzu kamen noch rund 175.000 inoffizielle Mitarbeiter, die die Stasi wie ein Netzwerk aus Wurzeln durch die Gesellschaft zog. Dieses riesige Überwachungs- und Repressionsapparat ermöglichte es der Staatssicherheit, nahezu alle Aspekte des Lebens in der DDR zu kontrollieren.
Doch trotz dieser allgegenwärtigen Kontrolle und Überwachung hatte die Stasi eines nicht verhindern können: Der Widerstand der Bürger wurde immer stärker. Als die Mauer schließlich fiel und die DDR in den letzten Zügen lag, begannen auch die letzten Bastionen des SED-Staates zu bröckeln. Der Widerstand gegen die Stasi wuchs, und am 15. Januar 1990 stürmten tausende von Bürgern die Berliner Stasi-Zentrale. Dieser Akt der Besetzung war ein Wendepunkt in der Geschichte der DDR und der Staatssicherheit. Es war ein symbolischer Akt, der die letzte Bastion des SED-Regimes zum Fall brachte.
Die Besetzung der Stasi-Zentrale war nicht nur der Beginn der Auflösung der Staatssicherheit, sondern auch ein entscheidender Moment für die Bürgerrechtsbewegung in der DDR. Durch den Druck der Demonstranten und der Bürgerrechtsgruppen konnte das Stasi-Unterlagengesetz vorangetrieben werden, das es den Bürgern ermöglichte, ihre eigenen Akten einzusehen. Dies war ein wichtiger Schritt zur Aufarbeitung der Verfehlungen des Ministeriums für Staatssicherheit und zur Wiederherstellung von Gerechtigkeit.
Heute können Millionen von Menschen ihre Stasi-Akten einsehen. Diese Möglichkeit hat vielen die Wahrheit über ihre eigene Überwachung und Verfolgung durch das MfS offenbart. Doch für viele bleibt die Frage, wie tief das Netz der Stasi wirklich reichte und welche Rolle die eigene Familie, Freunde oder Kollegen in diesem System spielten. Die Antwort auf diese Fragen lässt sich oft nur durch einen Blick in die Stasi-Akten finden.