Seit dem Mauerfall 1989 und der deutschen Wiedervereinigung sind mittlerweile mehr als drei Jahrzehnte vergangen, doch die Debatte um eine neue Verfassung – eine gemeinsame Grundlage für das wiedervereinte Deutschland – wurde nie vollständig abgeschlossen. Eine Frage, die damals aufkam und bis heute offen geblieben ist, lautet: Hätte es nach der Wiedervereinigung eine neue Verfassung geben sollen? Sollte es eine Volksabstimmung über ein erneuertes Grundgesetz geben, das als Verfassung für das gesamte Deutschland dient und so eine höhere Legitimation verschafft? Diese Diskussion erlebte im Zuge des 75. Jahrestags des Grundgesetzes eine Renaissance, mit Rufen nach einer Aktualisierung oder gar Neugestaltung.
Eine solche Neugestaltung einer gesamtdeutschen Verfassung wäre nicht nur eine technische Angelegenheit der rechtlichen Anpassung. Sie könnte vielmehr ein bedeutender Schritt sein, um die teils tiefen Spaltungen innerhalb der deutschen Gesellschaft, insbesondere zwischen Ost und West, zu überwinden. Trotz der gelungenen Vereinigung bleiben viele Ostdeutsche das Gefühl von Zweitklassigkeit und mangelnder politischer Mitgestaltung.
Vertrauen ins Grundgesetz: Eine gespaltene Wahrnehmung
Das Vertrauen der deutschen Bevölkerung in das Grundgesetz ist grundsätzlich hoch. Es gilt als eine der stabilsten und erfolgreichsten Verfassungen weltweit, die Deutschland durch diverse politische und gesellschaftliche Umbrüche begleitet hat. Doch dieses Vertrauen ist nicht gleichmäßig verteilt. Menschen mit Migrationsgeschichte und jene, die in der ehemaligen DDR sozialisiert wurden, zeigen im Durchschnitt weniger Vertrauen in das Grundgesetz. Woran liegt das?
In Ostdeutschland gibt es bis heute das Gefühl, dass der Einigungsprozess einseitig abgelaufen sei. Viele Ostdeutsche beklagen, dass sie die Wiedervereinigung eher als eine „Übernahme“ durch den Westen empfunden haben. Statt einer neuen Verfassung, die beide deutschen Staaten hätte vereinen können, wurde das Grundgesetz der Bundesrepublik einfach auf die neuen Bundesländer ausgeweitet. Die Chancen einer Neugestaltung oder eines Verfassungsprozesses, bei dem Ost und West gleichermaßen involviert gewesen wären, wurden vertan. Ebenso wenig wurde eine Volksabstimmung durchgeführt, um dem Grundgesetz eine höhere Legitimation zu verschaffen.
Auch Menschen mit Migrationsgeschichte fühlen sich oftmals nicht vollständig durch das Grundgesetz repräsentiert. Ihre Forderungen nach Chancengleichheit und politischer Partizipation sind oft nicht in ausreichendem Maße erfüllt. In einer vielfältigen und globalisierten Gesellschaft muss eine Verfassung jedoch die Bedürfnisse aller Bürgerinnen und Bürger reflektieren – unabhängig von ihrer Herkunft.
Die Frage nach einer gemeinsamen Erinnerung
Ein weiteres Problem liegt in der gemeinsamen Erinnerung an die Geschichte Deutschlands. Während die Friedliche Revolution in Ostdeutschland ein bedeutendes Ereignis für die dortige Bevölkerung ist, nimmt sie im gesamtdeutschen Geschichtsnarrativ einen eher untergeordneten Platz ein. Für viele Westdeutsche ist der Mauerfall nur eine Randnotiz, während für die Menschen in der ehemaligen DDR die Friedliche Revolution ein Symbol des demokratischen Aufbruchs und der Überwindung von Diktatur und Unterdrückung ist.
Eine gemeinsame Verfassung könnte dazu beitragen, diese unterschiedlichen Perspektiven auf die deutsche Geschichte besser zu integrieren. Die Friedliche Revolution, die schwierigen Jahre der Transformation und die Erfahrungen der Wiedervereinigung sollten fest in das kollektive Bewusstsein und die Erinnerungskultur Deutschlands eingebettet werden. Dieser Prozess könnte die Basis für ein stärkeres „Wir-Gefühl“ in der deutschen Gesellschaft legen, das sich nicht nur auf den Westen bezieht, sondern die gesamtdeutsche Identität widerspiegelt.
Die Rolle des Verfassungsprozesses für die Demokratie
Neben der Frage nach einer gemeinsamen Erinnerung und einem neuen „Wir-Gefühl“ stellt sich auch die Frage nach der Weiterentwicklung der Demokratie in Deutschland. Wie kann die Demokratie sturmfester gemacht werden? Wie können Bürgerinnen und Bürger stärker in politische Entscheidungsprozesse eingebunden werden?
Eine mögliche Antwort liegt in der Einrichtung von Bürgerräten, die bereits in einigen Bundesländern erfolgreich erprobt wurden. Diese Räte ermöglichen es Bürgern, direkt und ohne den Umweg über politische Parteien oder Parlamente an wichtigen politischen Entscheidungen mitzuwirken. Ein solcher Prozess könnte in eine neue Verfassung integriert werden und so den Menschen in Deutschland ein Gefühl von Mitbestimmung und Partizipation geben.
Gerade in Ostdeutschland, wo das Vertrauen in die etablierten Parteien und Institutionen seit Jahren erodiert, könnte dies ein Weg sein, die Demokratie wieder zu stärken und das Gefühl des „Nicht-Gehört-Werdens“ zu überwinden. Eine neue Verfassung könnte daher nicht nur die Einheit des Landes symbolisieren, sondern auch die Grundlagen für eine stärkere Beteiligung der Bürger schaffen.
Eine neue Verfassung als Symbol der Einheit
Im Mai 2024 feiert Deutschland das 75. Jubiläum seines Grundgesetzes. Dies könnte der Anlass sein, um die Debatte um eine neue Verfassung wieder aufleben zu lassen. Doch wie könnte ein solcher Prozess gestaltet werden? Welche Schritte müssten unternommen werden, um eine neue Verfassung auf den Weg zu bringen?
Zunächst müsste ein gesamtgesellschaftlicher Dialog gestartet werden, der alle Bürgerinnen und Bürger Deutschlands einbindet. Es könnte eine bundesweite Diskussion über die Grundlagen des deutschen Gemeinwesens stattfinden, bei der Menschen aus allen Regionen und mit unterschiedlichen Hintergründen ihre Anliegen und Wünsche äußern können. Im Mittelpunkt dieses Dialogs müsste die Frage stehen, wie Deutschland in Zukunft aussehen soll und welche Werte und Prinzipien diese neue Verfassung prägen sollen.
Eine neue gesamtdeutsche Verfassung wäre nicht nur ein Symbol für die Einheit Deutschlands, sondern auch ein Zeichen dafür, dass die deutsche Gesellschaft sich den Herausforderungen der Zukunft stellt. Sie könnte eine Brücke zwischen den verschiedenen Teilen der Bevölkerung schlagen und ein starkes Fundament für eine gemeinsame Zukunft legen.
Mitwirkende am Diskurs:
Diese Themen wurden in einer Podiumsdiskussion mit hochkarätigen Gästen wie dem Historiker Dr. Ilko-Sascha Kowalczuk und der Politikwissenschaftlerin Dr. Judith C. Enders sowie dem Stadtrat Paul Löser erörtert. Unter der Moderation von Jan Philipp Albrecht, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, diskutierten sie, wie eine neue Verfassung und eine gemeinsame Erinnerung an die Friedliche Revolution den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland stärken könnten.
Am Ende dieser Debatte bleibt die Frage: Ist Deutschland bereit für eine neue Verfassung?