Ein Facebook-Post über DDR-Heimerziehung löst eine Lawine aus. Die Kommentare unter meinem Beitrag offenbaren einen unversöhnten Kampf um die Deutungshoheit: Während Opfer von Misshandlung berichten, verteidigt eine Mehrheit ihre „normale“ Kindheit – und ruft erschreckend oft nach der harten Hand von gestern.
Es begann mit einem einfachen Post. In einem Beitrag stellte ich die These auf, dass Jugendliche in der DDR oft aus nichtigen Gründen – wie dem Tragen von Westkleidung oder politischem Widerspruch – in Spezialkinderheime oder Jugendwerkhöfe eingewiesen wurden. Was folgte, war kein historischer Diskurs, sondern eine digitale Abwehrschlacht. Hunderte Kommentare fluteten meine Spalte, und sie zeigten mir wie unter einem Brennglas, dass die innere Einheit Deutschlands auch über 30 Jahre nach dem Mauerfall in den Köpfen noch lange nicht vollzogen ist.
Der biografische Schutzwall
Als ich durch die Kommentare unter meinem Beitrag scrollte, stieß ich zuerst auf eine Mauer aus Wut. „Schwachsinn“, „Lügen“, „Hetze“ – das Vokabular der Ablehnung, das mir entgegenschlug, war aggressiv. Die dominante Gruppe der Kommentatoren fühlte sich durch meine Kritik am repressiven Erziehungssystem der DDR persönlich angegriffen. Ihr wichtigstes Beweisstück: die eigene Biografie.
„Ich habe auch Westkleidung getragen und mir ist nichts passiert“, schrieben Nutzer wie Peme F. oder Rainer L. Es ist ein klassischer logischer Fehlschluss, der mir in Ost-West-Debatten oft begegnet: Das eigene, unbehelligte Leben wird als universeller Beweis gegen das Unrecht an anderen ins Feld geführt. Weil man selbst die Jeans aus dem Westpaket tragen durfte, ohne abgeholt zu werden, kann es die Repression gar nicht gegeben haben. Ich sehe darin einen biografischen Schutzreflex: Wer zugibt, dass der Staat willkürlich handelte, müsste vielleicht auch die eigene, als behütet empfundene Normalität hinterfragen.
Die Stigmatisierung der Opfer
Noch verstörender als die Leugnung empfand ich jedoch die Rechtfertigung. Vielfach fand sich in den Spalten das Narrativ, wer im Jugendwerkhof landete, sei selbst schuld gewesen. „Dort sind Kinder hingekommen, die straffällig geworden sind“, hieß es, oder sie seien „asozial“ gewesen.
Diese Argumentation übernimmt unkritisch die Täterlogik der SED-Diktatur. Dass in Torgau oder Altengottern oft Jugendliche gebrochen wurden, die lediglich nicht ins sozialistische Weltbild passten, Schulschwänzer oder Punks waren, wurde ausgeblendet. Die Opfer von einst wurden in meiner Kommentarspalte ein zweites Mal stigmatisiert. Ihre Geschichten von Gewalt, Nummerierung statt Namen und Zwangsarbeit wurden als Lügen abgetan, wohl um das Bild des „sauberen Staates“ nicht zu beschmutzen.
Ein Schrei in der Echokammer
Dazwischen fanden sich, leise und oft verzweifelt, die Stimmen der Betroffenen. Sie berichteten von der „Hölle“ im Schloss Altengottern, von körperlicher Züchtigung, von Eltern, denen die Kinder aus politischen Gründen entzogen wurden. Doch diese Berichte prallten an der Mehrheitsmeinung ab.
Es gab kaum Dialog. Wenn eine Nutzerin wie Lilly H. detailliert beschrieb, wie ihr die Identität genommen wurde („Ich war die rote 1“), stand direkt darunter ein Kommentar, der alles als „Märchen“ abtat. Die Empathielosigkeit gegenüber den Opfern der eigenen Diktatur ist für mich das vielleicht erschütterndste Ergebnis dieser Beobachtung.
Die Sehnsucht nach Härte
Die Debatte unter meinem Post offenbarte jedoch nicht nur einen unaufgearbeiteten Blick zurück, sondern auch einen gefährlichen Blick nach vorn. Erschreckend häufig äußerten Kommentatoren den Wunsch, solche Einrichtungen wieder einzuführen. „So manchen Jugendlichen würde ein Jugendwerkhof heute mal gut tun“, ist ein Satz, der in Variationen immer wiederkehrte.
Hier vermischt sich DDR-Nostalgie mit aktueller Unzufriedenheit. Der autoritäre Erziehungsstil der DDR wird posthum zum Ideal verklärt, um gegen eine als chaotisch empfundene Gegenwart zu protestieren. Disziplin, Ordnung, „auf den richtigen Weg bringen“ – diese Reaktionen verraten mir eine Sehnsucht nach einfachen, harten Lösungen für komplexe gesellschaftliche Probleme.
Die unvollendete Geschichte
Die Kommentarspalte ist für mich mehr als nur ein Streit im Internet. Sie ist ein Dokument der gesellschaftlichen Spaltung. Auf der einen Seite steht das Trauma derer, die das System gebrochen hat. Auf der anderen Seite steht eine Mehrheit, die ihre Erinnerung an eine glückliche Kindheit verteidigt, notfalls um den Preis der historischen Wahrheit. Solange das Leid der Opfer als Angriff auf die eigene Biografie missverstanden wird, bleibt die Geschichte der DDR-Heimerziehung eine offene Wunde.