Am 30. November 1963 heiratet ein junger Mann von 23 Jahren. Die Kulisse ist keine Kirche und kein Standesamt im klassischen Sinne, sondern eine Kaserne der Nationalen Volksarmee. Ein Orchester spielt, Kameraden stehen Spalier. Diese Szene markiert den Beginn einer Biografie, in der das Private und das Politische, die Familie und der militärische Auftrag, untrennbar miteinander verschmelzen. Es ist der Einstieg in eine Karriere, die ihn tief in das Nervenzentrum der DDR-Militäraufklärung führen wird.
Der Weg führt nach Strausberg, in das Ministerium für Nationale Verteidigung. Hier, vor den Toren Berlins, wird der Kalte Krieg nicht im Schützengraben, sondern am Schreibtisch geführt. Die Aufgabe ist präzise definiert: die militärische Aufklärung von West-Berlin. Der junge Offizier analysiert nicht primär geheime Funksprüche, sondern liest jeden Morgen akribisch den „Tagesspiegel“ und die „Berliner Morgenpost“. Aus den offenen Informationen der West-Presse werden Rückschlüsse auf Truppenbewegungen der Alliierten gezogen.
Ein Detail aus dieser Zeit lässt die abstrakte Bedrohung des Kalten Krieges physisch greifbar werden. In den Räumen der Aufklärung existiert ein großflächiges, detailliertes Modell von West-Berlin, das mehrere Quadratmeter umfasst. Es dient nicht der Stadtplanung, sondern der Kriegsvorbereitung. An diesem Modell üben NVA-Kommandeure den Ernstfall: den Einmarsch und das Manövrieren in den Straßenschluchten der geteilten Stadt. Es ist eine bizarre Modellbau-Welt, die das Szenario einer realen Eskalation simuliert.
In den 1970er Jahren verlagert sich der Dienst in das zentrale Aufklärungszentrum. Der Arbeitsalltag besteht nun aus 24-Stunden-Schichten unter künstlichem Licht. Große Karten von Europa und der Welt dominieren den Raum, auf denen die aktuellen Positionen der NATO-Truppen und der eigenen Verbände des Warschauer Paktes verzeichnet sind. Die Welt wird hier zur strategischen Ressource, reduziert auf Symbole, Pfeile und Truppenstärken, die täglich in einem Morgenbericht für den Minister zusammengefasst werden.
Bemerkenswert ist der Umgang mit der Informationsflut aus dem Westen. Wer täglich westliche Medien konsumiert, Fernsehen auswertet und Zeitungen liest, könnte ins Zweifeln geraten. Doch der Offizier beschreibt eine professionelle Distanz. Die Informationen werden verarbeitet, aber nicht internalisiert. Es herrscht die feste Überzeugung, auf der „richtigen Seite“ zu stehen. Das Weltbild ist geschlossen, die eigene Rolle im System wird nicht hinterfragt, sondern als notwendiger Beitrag zur Friedenssicherung im Sinne der DDR-Doktrin verstanden.
Diese Binnensicht offenbart eine spezifische ostdeutsche Militärelite, die hochgebildet und spezialisiert war. Für den Dienst an der Akademie in Dresden musste das Abitur in Fächern wie Physik, Chemie und Russisch nachgeholt werden. Es war ein Aufstieg durch Leistung, der Loyalität zementierte. Das System bot Karrierechancen und forderte dafür absolute Systemtreue, die auch durch den ständigen virtuellen Kontakt mit dem Klassenfeind nicht erodierte.
Rückblickend erscheint diese Arbeit in Strausberg als ein Dienst in einer hermetischen Blase. Während draußen die Welt des Kalten Krieges tobte und sich gesellschaftliche Umbrüche ankündigten, wurde im Lagezentrum die Ordnung aufrechterhalten. Man beobachtete den Westen, analysierte jede Regung der Alliierten in West-Berlin und blieb doch im Denken und Handeln vollkommen den Strukturen der Nationalen Volksarmee verhaftet.