Zwischen Fürsorge und Ideologie: Der Alltag im DDR-Kindergarten

Ein staatlich garantiertes Betreuungsnetz ermöglichte DDR-Frauen die Berufstätigkeit, doch der Preis war oft eine frühe politische Einflussnahme auf die Kinder. Dr. Stefan Wolle vom DDR Museum blickt zurück auf ein System zwischen pädagogischem Anspruch und staatlichem Zugriff.

Berlin. Wer an die DDR zurückdenkt, landet in Diskussionen oft schnell beim Thema Kinderbetreuung. Für die einen war es ein vorbildliches System der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, für die anderen ein Instrument der staatlichen Indoktrination. Doch wie sah der Alltag in den Einrichtungen tatsächlich aus? Dr. Stefan Wolle, wissenschaftlicher Leiter des DDR Museums, ordnet die Erinnerungen historisch ein.

Die berufstätige Mutter als Norm
Der Hauptgrund für den massiven Ausbau der Kinderbetreuung war ökonomischer Natur. Die DDR war auf die Arbeitskraft der Frauen angewiesen. „91 Prozent der Frauen der DDR waren berufstätig oder befanden sich in Ausbildung“, erklärt Dr. Wolle die Ausgangslage.

Die Konsequenz für die Familienstruktur war gravierend: Die klassische Hausfrau gab es kaum. „Das hieß in der Konsequenz, dass der allergrößte Teil der Kinder die Kinderkrippe und den Kindergarten besucht haben“, so Wolle. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: „Über 95 Prozent durchliefen hier solche Einrichtungen.“

Mehr als nur Aufbewahrung
Dabei waren die Kindergärten, die direkt der Volksbildung unterstanden, keineswegs bloße Verwahranstalten. Dr. Wolle verweist auf ein „ausgefeiltes pädagogisches Programm“, das „auf höchstem wissenschaftlichen Niveau entwickelt“ worden sei.

Der Fokus lag auf einer frühzeitigen Schulvorbereitung. Von der Tagesplanung über praktische Fähigkeiten bis hin zu ersten akademischen Schritten wurden die Kinder gefördert. „Aber auch schon ein bisschen Rechnen, die Buchstaben lernen, sodass sie ganz gut für die Schule vorbereitet waren“, beschreibt Wolle den Bildungsanspruch.

Der Griff der Partei nach den Kleinsten
Doch das System hatte seine Schattenseiten, die viele Eltern mit Sorge betrachteten. Die Skepsis gegenüber den Einrichtungen rührte oft daher, dass befürchtet wurde, „dass in der DDR ihre Kinder alle frühzeitig schon ideologisch, politisch beeinflusst werden“, erläutert der Historiker.

Ein Blick in die damaligen Bildungspläne bestätigt diese Befürchtungen. Es ging nicht nur um Basteln und Singen, sondern um die Formung einer sozialistischen Persönlichkeit. Dr. Wolle zitiert die Vorgaben: Es ging um „die Erziehung zur Liebe zum werktätigen Volk und zur Heimat und insbesondere auch zur Verteidigung der Heimat.“

In der Praxis nahm dies teils militaristische Züge an. Besonders zu Feiertagen wie dem Tag der Nationalen Volksarmee (NVA) wurde der politische Auftrag sichtbar. „Da sollten Bilder gemalt werden, wo die Kinder den Soldaten Blumen bringen. Da sollte auch Kriegsspielzeug verwendet werden“, führt Wolle aus.

Allerdings war der Kindergartenalltag nicht überall gleich streng reglementiert. Es gab Nischen und stillen Widerstand. Laut Dr. Wolle haben die Mitarbeiterinnen der Kindergärten die ideologischen Vorgaben „möglicherweise zum Teil bewusst unterlaufen oder ignoriert.“

Ein System ohne Alternative?
Was bleibt als Bilanz? Dr. Wolle hebt hervor, dass die flächendeckende Bereitstellung von Krippen- und Kindergartenplätzen „positiv auf jeden Fall zu bewerten“ sei – ein Standard, von dem Eltern im wiedervereinigten Deutschland lange nur träumen konnten.

Doch die Kehrseite war der Mangel an Wahlfreiheit. „Für die meisten war es eben aufgrund ihrer Berufstätigkeit nicht wirklich eine freie Entscheidung“, gibt Wolle zu bedenken. Viele Kinder fühlten sich alleine gelassen und wären lieber zu Hause geblieben. Da es die Alternative der nichterwerbstätigen Mutter kaum gab, blieb Familien oft keine Wahl.

Dr. Wolles Fazit fällt daher nüchtern aus: „Insofern war die Kinderkrippe und noch mehr der Kindergarten ein Muss in der Erziehung der DDR.“