Zwischen Versorgung und Kollektiv: Eine Analyse der DDR-Krippenerziehung

Die Deutsche Demokratische Republik verfügte über eines der dichtesten Netze an Kinderbetreuungseinrichtungen. Bis zum Jahr 1989 existierten über 7.700 Einrichtungen, die rund 80 Prozent der Kinder unter drei Jahren betreuten. Diese hohe Versorgungsdichte war das Ergebnis einer gezielten Sozialpolitik. Eine Analyse der Psychoanalytikerin Agathe Israel untersucht die Hintergründe dieser staatlichen Betreuung, die pädagogische Praxis und die Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder.

Sozialpolitischer Rahmen und Zielsetzung
Die Expansion des Krippensystems, insbesondere ab den 1970er Jahren, verfolgte primär zwei Ziele: die Einbindung der Frauen in den Arbeitsmarkt und die frühzeitige Sozialisation der Kinder. Flankiert wurde der Ausbau durch sozialpolitische Maßnahmen wie das „Babyjahr“, Arbeitsplatzgarantien und zinslose Ehekredite, die bei Geburten anteilig erlassen wurden.

Diese Maßnahmen boten Familien ökonomische Sicherheit und Planbarkeit. Gleichzeitig formulierte der Staat einen klaren Erziehungsauftrag. In einer „einheitlichen Erzieherfront“ sollten Familie und Institutionen zusammenwirken, um die Kinder zu „sozialistischen Persönlichkeiten“ zu erziehen. Im Zentrum stand dabei das Kollektiv: Die Einordnung in die Gruppe und die Unterordnung individueller Bedürfnisse unter gemeinschaftliche Normen galten als erstrebenswerte Erziehungsziele.

Das „Erziehungsprogramm für Krippen und Heime“
Die pädagogische Grundlage bildete das staatliche „Erziehungsprogramm für Krippen und Heime“, das 1968 eingeführt und 1974 präzisiert wurde. Es definierte verbindliche Normen für den Tagesablauf und die Entwicklungsschritte der Kinder. Die Einhaltung dieser Vorgaben wurde mittels Entwicklungsbögen dokumentiert und kontrolliert.

Das Programm orientierte sich stark an sowjetischen Vorbildern und verhaltensbiologischen Ansätzen (Pawlow). Die Rolle der Erzieherin war dabei aktiv und lenkend definiert: Sie sollte Prozesse „führen“, „organisieren“ und „fordern“. Reformpädagogische Ansätze, die das Kind als eigenständiges Subjekt mit individuellem Tempo betrachteten, spielten in der offiziellen Doktrin kaum eine Rolle. Entwicklung wurde primär als planbarer Prozess verstanden, der durch gezielte Reize gesteuert werden sollte.

Der Krippenalltag in der Praxis
Die Realität in den Einrichtungen war oft von den strukturellen Bedingungen geprägt. Gruppengrößen von teils über 20 Kleinkindern und ein striktes Schichtsystem des Personals erforderten einen straff organisierten Tagesablauf. Essen, Schlafen und Pflegehandlungen erfolgten meist kollektiv und zeitgleich.

Ein bekanntes Beispiel für diese Praxis war die gemeinsame Sauberkeitserziehung („Topfen“), bei der mehrere Kinder gleichzeitig auf die Toilette gesetzt wurden. Sauberkeit galt als wichtiger Indikator für den Entwicklungsstand und die elterliche Kompetenz. Aufgrund der großen Gruppen und der Personalsituation blieb im Alltag oft wenig Raum für individuelle Zuwendung.

Die Eingewöhnung der Kinder erfolgte häufig abrupt. Konzepte für eine sanfte Ablösung von den Eltern, wie sie heute üblich sind, waren kaum verbreitet oder wurden aus hygienischen Gründen (Zutrittsverbote für Eltern) nicht umgesetzt. Reaktionen der Kinder auf die Trennung, wie Weinen oder Rückzug, wurden im Kontext der damaligen Erziehungsvorstellungen oft als notwendiger Anpassungsprozess interpretiert, um eine „Verwöhnung“ zu vermeiden.

Untersuchung der Langzeitfolgen
Im Gegensatz zur Tschechoslowakei, die in den 1960er Jahren aufgrund von Studien zu Deprivationsschäden die Krippenplätze reduzierte, hielt die DDR am Ausbau der frühen Fremdbetreuung fest. Agathe Israel beleuchtet in ihrer Arbeit mögliche psychologische Folgen dieser Praxis.

Interviews mit ehemaligen Krippenkindern deuten darauf hin, dass die rigiden Strukturen Auswirkungen auf die emotionale Entwicklung hatten. Insbesondere bei Personen, die das strukturierte Programm der 1970er Jahre durchliefen, beobachtete Israel Einschränkungen in der sogenannten „reflexiven Funktion“ – der Fähigkeit, eigene Gefühle und die anderer differenziert wahrzunehmen. Zudem zeigten sich Zusammenhänge zwischen sehr früher Aufnahme in die Krippe und einer erhöhten Infektanfälligkeit im Kindesalter sowie psychosomatischen Reaktionen im Erwachsenenalter.

Das System der frühen Fremdbetreuung in der DDR war ambivalent. Einerseits bot es eine verlässliche Infrastruktur, die Berufstätigkeit und Familie vereinbar machte und vielen Kindern einen geregelten Alltag bot. Andererseits priorisierte das System funktionale Abläufe und die Einordnung in das Kollektiv gegenüber individuellen Bindungsbedürfnissen. Die Analyse zeigt, dass eine flächendeckende Versorgung quantitativ erfolgreich sein kann, ohne zwangsläufig den qualitativen emotionalen Bedürfnissen von Kleinstkindern gerecht zu werden.