„Es war nicht alles schlecht“ ist der Satz, an dem der Dialog stirbt

Eine Kolumne über die schwierige Kunst, die eigene Vergangenheit zu lieben, ohne die Umstände zu verklären.

Es gibt diesen einen Moment in fast jeder hitzigen Diskussion über die Vergangenheit – sei es am Abendbrottisch, in Talkshows oder in den Kommentarspalten der Republik. Es ist der Moment, in dem die politische Analyse auf die persönliche Erinnerung prallt wie ein Auto auf eine Betonwand.

Da sagt jemand: „Das System war Unrecht.“
Und das Gegenüber hört: „Dein Leben war falsch.“

Der Reflex ist menschlich, aber er ist fatal für unsere Gesprächskultur. Wir ziehen uns in den Schützengraben zurück. Wer seine Biografie angegriffen fühlt, verteidigt oft blindlings die Kulisse, vor der dieses Leben stattfand. Und genau hier liegt der Schlüssel, der uns oft fehlt: „Niemand hier muss seine Kindheit rechtfertigen. Und niemand muss auf eine Systemkritik verzichten. Vielleicht gelingt unser Austausch besser, wenn wir diese Ebenen trennen.“

Dieser Satz ist mehr als ein frommer Wunsch; er ist eine methodische Notwendigkeit, wenn wir uns nicht ewig im Kreis drehen wollen.

Die Ebene der Kindheit: Das unantastbare Leuchten
Beginnen wir mit der ersten Ebene: der Rechtfertigung. Warum fühlen sich Menschen genötigt, ihre Kindheit zu verteidigen? Weil Glück, Geborgenheit und der Geschmack von Pflaumenkuchen reale Erfahrungen sind. Ein Kind, das im Sandkasten spielt, fragt nicht nach der Gewaltenteilung oder der Pressefreiheit. Die erste Liebe, der Zusammenhalt im Sportverein, der Geruch der geheizten Wohnung im Winter – das sind sensorische Wahrheiten. Sie sind echt.

Wenn nun von außen – oft aus einer Position moralischer Überlegenheit – das System, in dem dies stattfand, als reine „Diktatur“ oder „Unrechtsstaat“ (begrifflich völlig korrekt) gelabelt wird, entsteht bei vielen ein kognitiver Kurzschluss. Wenn der Staat das absolute Böse war, darf ich dann glücklich gewesen sein? War mein Lachen Komplizenschaft?

Die Antwort muss lauten: Nein. Man muss sich nicht dafür rechtfertigen, im Falschen glückliche Momente gehabt zu haben. Das private Glück ist nicht der Beweis dafür, dass das System gut war. Es ist nur der Beweis dafür, dass Menschen widerstandsfähig sind und Nischen des Lebens finden, egal unter welcher Flagge. Wer seine Kindheit rechtfertigen muss, begibt sich in eine Verteidigungshaltung, die den Blick für die Realität trübt.

Die Ebene der Kritik: Keine Amnestie für die Umstände
Und hier kommt die zweite Ebene ins Spiel: die Systemkritik. Wenn wir aufhören, Biografien abzuwerten, müssen wir im Gegenzug aufhören, Systeme zu verharmlosen.

Das ist der Deal.

Nur weil die eigene Oma herzlich war, war die Stasi nicht weniger brutal. Nur weil man im Ferienlager Spaß hatte, waren die Mauertoten nicht weniger tot. Die Gefahr der „Ostalgie“ (um beim prominentesten deutschen Beispiel zu bleiben) liegt nicht darin, dass man sich an positive Erlebnisse erinnert. Sie liegt darin, dass man diese Erlebnisse benutzt, um die strukturelle Unterdrückung wegzuwischen.

„Es war nicht alles schlecht“ ist der Satz, an dem der Dialog stirbt. Besser wäre: „Es war schlimm, aber wir haben trotzdem gelebt.“

Die Trennung als Befreiungsschlag
Wenn wir die Ebenen trennen, passiert etwas Erstaunliches: Der Druck entweicht.

Der Kritiker des Systems muss nicht mehr befürchten, dass er die Lebensleistung der Menschen in den Schmutz zieht, wenn er Missstände benennt. Er kann sagen: „Die Planwirtschaft war bankrott und die Überwachung unmenschlich“, ohne dass er damit sagt: „Und übrigens war dein erster Kuss wertlos.“

Und derjenige, der das System erlebt hat, muss nicht mehr die repressiven Strukturen schönreden, nur um seine Erinnerungen zu schützen. Er kann sagen: „Ja, der Staat war übergriffig, und ich bin froh, dass er weg ist. Aber meine Kindheit lasse ich mir nicht nehmen.“

Diese Trennung erfordert intellektuelle Disziplin. Es ist anstrengend, zwei scheinbar widersprüchliche Wahrheiten gleichzeitig im Kopf zu behalten: Dass ein System politisch verwerflich und ein Leben darin subjektiv gelungen sein kann. Aber genau diese Ambivalenztoleranz ist es, die einer reifen Gesellschaft gut zu Gesicht steht.

Wir müssen aufhören, uns gegenseitig die Legitimität unserer Erinnerungen abzusprechen. Wenn niemand mehr seine Vergangenheit als Schutzschild gegen historische Fakten benutzen muss, können wir vielleicht endlich anfangen, wirklich zuzuhören. Dann streiten wir über Politik, nicht über Gefühle. Und das wäre ein gewaltiger Fortschritt.