Es gibt diese Geschichten aus der DDR-Kulturszene, die wirken, als kämen sie aus einem Paralleluniversum – und doch beschreiben sie präzise den Alltag jener Künstler, die zwischen Macht, Misstrauen und erstaunlicher Findigkeit navigierten. Einer von ihnen war Reimund Heiner Müller, der unter dem Pseudonym Max Messer begann und später zu einer der wichtigsten literarischen Stimmen der DDR wurde. Ein Mann, der mehr als 35 Bühnenwerke hinterließ, Büchner-Preisträger, Präsident der Akademie der Künste, aber eben auch jemand, der früh erlebte, wie eng die Leine in einem gut vermessenen Staat gezogen war.
Sein Weg durch das System zeigte die Widersprüche des Landes wie unter einem Brennglas: 1947 trat er in die SED ein, arbeitete ab 1951 journalistisch in Berlin, wurde nach der Studentenaufführung Die Umsiedlerin aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Es sind biografische Daten, die sich lesen wie Koordinaten eines politischen Seismogramms. Wo Müller auftauchte, bebte etwas. Wo er schwieg, las man zwischen den Zeilen. Und wo man ihn kontrollieren wollte, fand er Umwege.
Denn wer in der DDR Kunst machen wollte, musste mehr beherrschen als Drama und Dialog. Man musste ein Meister der Gesprächsführung sein. Ein Künstler musste wissen, wann er sprach – und noch viel wichtiger: wann er schwieg. Mit Parteifunktionären wurde es im Laufe der Jahre schwieriger; sie lebten in ideologischen Echokammern, unfähig, Realität zu erkennen. Ausgerechnet die Stasi-Offiziere, jene Männer, die Müller seit 1961 beobachteten, waren oft die nüchterneren Gesprächspartner. Nicht, weil sie Verbündete waren, sondern weil sie die Lage des Landes präziser kannten als die Funktionäre, die es führten.
Es war ein bizarrer Pragmatismus: Man konnte mit jenen reden, die einen als „potenziellen Feind“ einstuften – und nicht mit denen, die offiziell Kultur lenkten. Müller wusste das. Er kannte die Codes, die Fallen, die Leerstellen. Die Stasi wiederum sah in ihm einen „Kristallisationspunkt“, einen Ort, zu dem die jungen Leute strömten. Sie wollten ihn kontrollieren, aber nicht verlieren. Nähe als Mittel der Überwachung – und der Einflussnahme.
Und trotzdem: Die Kunst fand Wege. Stücke lagen zwölf Jahre in Schubladen, bis die politische Temperatur stimmte. Buchausgaben durften in der DDR nicht beworben werden, erschienen aber im Westen. Müller arbeitete am Deutschen Theater mit Benno Besson, war Dramaturg an der Volksbühne, wurde 1984 Mitglied der Akademie der Künste, 1985 mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet – ein ostdeutscher Weltkünstler, der stets unter Beobachtung stand und dennoch eine Sprache entwickelte, die über Grenzen ging.
Vielleicht liegt darin das eigentliche Vermächtnis von Heiner Müller, der am 30. Dezember 1995 in Berlin starb: Dass große Kunst selbst im engsten Raster Wege findet. Dass Kreativität manchmal genau dort am stärksten wird, wo sie am wenigsten Platz hat. Und dass jene Räume zwischen zwei Sätzen, zwischen Schweigen und Sprechen, größer sein können als jede Bühne, auf der ein Stück schließlich erscheint.